Massenphänomen Sitzenbleiben:Sitzen geblieben!

Klassenziel verfehlt? Bildungsexperten fragen sich, ob nicht der Schüler, sondern die Schule versagt, wenn Kinder eine Ehrenrunde drehen müssen.

Tanjev Schultz

Wenn ein Schüler, dessen Versetzung gefährdet ist, sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt, ist das ja eigentlich ein gutes Zeichen. Aber nicht, wenn es so geschieht, wie vorigen Freitag in Berlin: Da stürmten zwei Jugendliche eine Realschulklasse, bedrohten die Lehrerin mit einer Stahlrute und wollten ihr die Tasche rauben. Nach derzeitigem Stand der Ermittlungen hatte ein 16-Jähriger, der sitzenbleiben wird, die Angreifer angeheuert, um die Zeugnisunterlagen zu stehlen. Der Plan war nicht nur grausam, sondern auch dämlich. Es spricht einiges dafür, dass der Raub dem Jungen nichts geholfen hätte.

Klassenziel verfehlt? Bildungsexperten fragen sich, ob nicht der Schüler, sondern die Schule versagt, wenn Kinder eine Ehrenrunde drehen müssen.

Wer sitzen bleibt, braucht Hilfe - sonst "wird der Schlendrian weitergehen", sagt der Lehrer Jonas Lanig. In seiner Klasse sind 40 Prozent vom Sitzenbleiben bedroht. (siehe Interview)

(Foto: Foto: istockphoto)

Man kann von Glück sagen, dass nicht alle so ausrasten wie der 16-Jährige in Berlin. Denn noch immer ist das Wiederholen einer Klasse ein Massenphänomen. Jedes Jahr drehen bundesweit fast eine Viertel Million Schüler eine "Ehrenrunde", wie das Zurückstufen auch gerne genannt wird. Besonders in der neunten Klasse bleiben viele sitzen, Jungen sind öfter betroffen als Mädchen. Die wenigsten Sitzenbleiber gibt es in Baden-Württemberg, sehr viele in Mecklenburg-Vorpommern und in Bayern. Selbst CSU-Chef Edmund Stoiber musste einst eine Klasse wiederholen.

In der Politik ist Stoiber damit in guter Gesellschaft. Auch Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) und Saarlands Bildungsminister Jürgen Schreier (CDU) gehören zur großen Koalition der Sitzenbleiber. Und wer es am Ende trotzdem zu etwas gebracht hat, kann den vermeintlichen Makel zur Schau tragen wie ein exotisches Accessoire. "Sitzenbleiben ist eine Chance. Ich habe sie genutzt", verkündete Jürgen Schreier stolz während einer Debatte im Landtag.

Viele Pädagogen sehen das kritischer. Sie sprechen von einer Vergeudung der Lebenszeit. Durch das Sitzenbleiben werde ein Schüler meist auch nicht schlauer, sagt der Pisa-Forscher Manfred Prenzel. Wenn es das Sitzenbleiben nur in Ausnahmefällen gäbe (zum Beispiel bei Schülern, die lange krank sind), wären die Schulen gezwungen, die Schwachen besser zu fördern. Wer sitzenbleibt, muss sich als Älterer unter neuen Mitschülern behaupten. Viele verlören dann endgültig ihre Motivation zu lernen, warnt der Münsteraner Schulpsychologe Lothar Dunkel. Der Philologenverband hält dem entgegen, eine erneute Beschäftigung mit bekanntem Lernstoff könne auch Erfolgserlebnisse bringen.

Einig sind sich Pädagogen und Politiker darin, dass sie die Zahl der Sitzenbleiber reduzieren wollen. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft könnten dadurch jährlich bis zu einer Milliarde Euro gespart werden. Bayerns Kultusminister Siegfried Schneider (CSU) wirbt an den Schulen dafür, Jugendliche rechtzeitig aufzufangen. Das Wiederholen einer Klasse solle nur das letzte Mittel sein. In Schleswig-Holstein müssen Schulen neuerdings eigene Pläne erstellen, wie sie die Schüler individueller fördern wollen. Schulministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) hat außerdem einen "Förderfonds" eingerichtet, aus dem Schulen zusätzliche personelle und finanzielle Mittel bekommen, um schwache und versetzungsgefährdete Schüler besser betreuen zu können.

Um ihre Noten zu verbessern und nicht sitzenzubleiben, haben in diesem Jahr mehrere hundert hessische Schüler freiwillig an Lerncamps während der Osterferien teilgenommen. In Bremen gibt es solche Ferienangebote schon länger, dort sinkt bereits der Anteil der Sitzenbleiber.

Bundesweit werden aber auch in diesem Jahr wieder Tausende Schüler in die Sommerferien entlassen, um dann im nächsten Schuljahr in die gleiche Klassenstufe zurückzumüssen. Dass Eltern und Kinder gar nicht glauben mögen, was sie da auf dem Zeugnis lesen müssen, kommt sicher oft vor. Doch nur selten ist alles bloß ein großes Missverständnis. Vor zwei Jahren gab es so einen denkwürdigen Moment, da sollten an einem Gymnasium in Siegen alle 69 Schüler eines Jahrgangs sitzenbleiben. So stand es auf den Zeugnissen, weil versehentlich die falsche Vorlage benutzt wurde. Nach den Sommerferien wurde der Irrtum korrigiert.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: