Mädchen: Selbstbewusst durch Sport:Draufhauen für die Karriere

Raus mit dem Zorn: Die Professorin Heather Cameron holt Berliner Mädchen von der Straße in den Box-Ring. Dort lernen sie, für ihre Ziele zu kämpfen - und nicht nur das.

Kristina Läsker

Als Nina das erste Mal die Sporthalle betrat, mochte sie niemandem ins Gesicht schauen. Eine introvertierte 14-Jährige, mit schwarzen Klamotten. Die Hüften zu rund, die Miene missmutig. Wie so viele Jugendliche in Großstädten wie Berlin. Nina starrte auf die tänzelnden Mädchen im Ring, auf die Punchingbälle und die wippenden Boxsäcke. "Dieses Mädchen war zornig damals", sagt Heather Cameron. "Sehr zornig." Cameron, 41, kennt solche Mädchen. Die sportliche Professorin hat viele von ihnen begleitet. Wütende und stille, laute und schüchterne, türkische und deutsche.

Mädchen: Selbstbewusst durch Sport: "Als Unternehmerin muss man bereit sein zu kämpfen": Heather Cameron ist Juniorprofessorin an der FU in Berlin - und Gründerin des größten Frauen-Boxvereins in Europa. Dort sollen Mädchen mit schwierigem sozialen Hintergrund lernen, sich zu verteidigen und für ihre Überzeugungen einzustehen. Manchmal steigen aber auch Frauen aus der Wirtschaft bei Cameron in den Ring: Neulich war die halbe Belegschaft des Beratungsunternehmens A.T. Kearney da.

"Als Unternehmerin muss man bereit sein zu kämpfen": Heather Cameron ist Juniorprofessorin an der FU in Berlin - und Gründerin des größten Frauen-Boxvereins in Europa. Dort sollen Mädchen mit schwierigem sozialen Hintergrund lernen, sich zu verteidigen und für ihre Überzeugungen einzustehen. Manchmal steigen aber auch Frauen aus der Wirtschaft bei Cameron in den Ring: Neulich war die halbe Belegschaft des Beratungsunternehmens A.T. Kearney da.

(Foto: privat)

Viele junge Frauen sind irgendwie in Camerons Obhut geraten. Sie sind in die Boxhalle im Berliner Stadtteil Kreuzberg gekommen, wo laute Rockmusik dröhnt und Poster von Box-Ikonen wie Rocky Balboa an den Wänden hängen. Viele Mädchen sind irgendwann selbst in den Ring gestiegen.

Mit den ersten Übungen schwanden die überflüssigen Pfunde. Mit den Schlägen bahnten sich die Emotionen einen Weg nach draußen. Mit den Muskeln wuchs gleichsam ein neues Selbstbewusstsein. So wie bei dem Mädchen, das hier Nina heißen soll. Die als Linkshänderin von Cameron zu "unserer neuen Geheimwaffe" erklärt wurde und unter diesem Lob aufblühte. Die nach einem halben Jahr Boxtraining endlich auch in der Schule wieder am Sportunterricht teilnahm. Die dort dann beim Volleyball einen so schönen Schmetterball schlug, wie das der Lehrer einem Mädchen aus "so schwachen sozialen Verhältnissen" nie zugetraut hätte.

Es sind die Ninas dieser Welt, für die Heather Camerons Herz schlägt. Benachteiligte Mädchen, die durch das Boxen anfangen, ihre eigene Stärke zu spüren. Die ihr Leben selbst in die Hand nehmen. "Wenn wir mehr aktive Frauen im öffentlichen Leben wollen, müssen wir die Mädchen stärken", sagt Cameron.

Die Mädchen sind der Grund, warum die drahtige Frau zwei Leben führt. Warum sie, die vor zwölf Jahren wegen eines Forschungsstipendiums von Toronto nach Berlin kam, so viel in ihren Tagesablauf presst. Im ersten Leben arbeitet die in Vancouver aufgewachsene Cameron als Hochschullehrerin an der FU Berlin. Dort lehrt und forscht die Juniorprofessorin seit 2008 zu Integrationspädagogik und Erziehungswissenschaften. In ihrem zweiten Leben in der Freizeit arbeitet sie ehrenamtlich als Sozialunternehmerin. Sie will sozialen Wandel gestalten.

Vor fünf Jahren gründete Cameron in der Hauptstadt den Verein Boxgirls. Jahrelang hatte sie vergeblich nach einem Club gesucht, in dem nur Frauen kämpfen. Weil es den nicht gab, hat sie ihn selbst gegründet in ihrem Kiez. Heute boxen in Berlin mehr als 100 Mädchen und Frauen im Boxcamp - es ist Europas größter Frauenboxverein. Regelmäßig kommen etwa 40 junge Frauen in die Halle. Etwa die Hälfte hat ausländische Eltern, schätzt Cameron. Bis zu zwei Stunden schwitzen die jungen Boxerinnen gemeinsam. Aufwärmen, technisches Training, Übungen mit einer Partnerin. Zeit für Gespräche. Zeit zum Austausch.

Lob von Angela Merkel

Wenn Cameron von ihren Boxgirls erzählt, bewegt sich die Frau mit den kurzen dunklen Haaren, als stehe sie selbst im Ring. Dann nimmt sie die Fäuste vor das Gesicht und plötzlich schlägt die rechte Hand nach vorne. Bang. "Du musst den Schlag genau positionieren", sagt sie. Durch ihr Deutsch bricht ein starker amerikanischer Akzent. "Du brauchst Konzentration, Mut, Kraft."

Cameron weiß, wovon sie spricht. Sie war 26, hatte Philosophie und Geschichte studiert, als sie selbst zu boxen begann. Sie schrieb gerade an ihrer Dissertation und brauchte Ausgleich zu all den Thesen von Foucault und Adorno, zu all dem dichten Stoff der Philosophen und Psychologen. "Ich suchte eine Grenzerfahrung", erinnert sich Cameron. "Ich suchte eine Sportart, wo man an die körperlichen und psychischen Grenzen stößt und diese verrücken kann."

Am Anfang fand sie Boxen eher brutal. Dann wurde es für sie zu einer Quelle neuer Erfahrungen. Das Hobby geriet zur Leidenschaft, auch als die Kanadierin im Jahr 1997 nach Deutschland umsiedelte. In Berlin trainierte Cameron anfangs nur mit Männern. Das brachte Ausdauer, Disziplin und Härte. 1998 gewann sie schließlich die Berliner Meisterschaft. Der harte Sport verlangt Zugeständnisse. "Du nimmst in Kauf, dass du dich verletzt und verlierst." Doch wie ihre Mädchen will auch Cameron weiterkommen. Als Durchboxerin.

Als sie das Boxcamp gründete, hatte die Professorin noch Zeit, zweimal pro Woche selbst mit den Mädchen zu üben und zu kämpfen. Heute machen das sechs Trainerinnen, Cameron kommt hin und wieder rein, oder sie gibt einen Workshop. Zuletzt ist sie viel gereist und hat zwei neue Clubs gegründet, einen in Kenia in Nairobi und einen in Südafrika, im Arm enviertel Khayelitsha vor den Toren Kapstadts. Ihre Idee hat sie von Deutschland auf Afrika übertragen: Mädchen lernen durch das Boxen, sich selbst zu verteidigen und sich zu behaupten.

In Deutschland lockt Cameron auch gestandene Frauen in den Ring. Vergangenes Frühjahr streiften sich 20 Beraterinnen des Beratungsunternehmens A.T. Kearney für einen Tag die Boxhandschuhe über. Cameron glaubt, dass sie auch Managerinnen einiges beibringen kann. "Als Unternehmerin muss man bereit sein, die Initiative zu ergreifen und für etwas zu kämpfen", sagt sie. Doch dazu müssten viele Frauen erst mal ihre Hemmungen ablegen. Kicken statt Kichern. Angreifen statt abwarten. "Das ist nicht unweiblich", sagt sie.

In der Hauptstadt hat Heather Cameron für Wirbel gesorgt. Im April ehrte Angela Merkel die Boxgirls. Die Kanzlerin überreichte den Preis persönlich an Cameron und ihre Mädchen. "Boxen ist ein sehr strategischer Sport", sagte die Kanzlerin, "weil man auch noch schauen muss, wie sich der andere verhält". Es klang ein bisschen, als spräche sie über die Koalition mit der FDP.

Gestärkt durch den Rückhalt möchte Cameron ihre Initiative weiter ausbauen. Dazu hat sie nun eine Chance erhalten. Ende November ist die 41-Jährige in das Netzwerk der Organisation Ashoka aufgenommen worden. Als deren Schützling wird sie drei Jahre lang finanzielle Hilfe und Coachings aus der Wirtschaft erhalten und kann sich mit anderen Sozialunternehmern vernetzen.

Cameron will das nutzen, um sich auch als Professorin stärker ihren Boxcamps zu widmen. Gerne möchte sie das Boxen wissenschaftlich begleiten. "Ich möchte wissen, wie soziale Innovationen gedeihen können und wie Menschen zu motivieren sind", erklärt sie. Um Antworten zu erhalten, wird sie sicherlich noch häufig in den Ring klettern.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: