Ludwigshafen:Massenprodukt und Sammlerobjekt

Ludwigshafen: Die Berührung des Auslösers ist nur noch der Ausgangsmoment für algorithmische Prozesse, die das Bild zu Ende rechnen. Das "Selfportrait (with Headlamp), 2009" von Peter Miller ist Teil der Ausstellung "1x1 der Kamera" im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen.

Die Berührung des Auslösers ist nur noch der Ausgangsmoment für algorithmische Prozesse, die das Bild zu Ende rechnen. Das "Selfportrait (with Headlamp), 2009" von Peter Miller ist Teil der Ausstellung "1x1 der Kamera" im Wilhelm-Hack-Museum in Ludwigshafen.

(Foto: Peter Miller/VG Bild-Kunst, Bonn2017)

Noch nie wurde privat so viel geknipst wie heute. Gleichzeitig erlebt die Kunst der Fotografie eine Aufwertung. Eine Ausstellung beleuchtet den Einfluss der digitalen Technik.

Von Jürgen Moises

Gesichtertausch, Hintergrundentfernung, Körperformänderung oder inhaltssensitives Löschen. So lauten nur ein paar der Funktionen, die ein relativ einfaches und erschwingliches Fotomanagement- und Bildbearbeitungsprogramm dem Profi- oder Hobbyfotografen bietet, um am Computer seine Digitalbilder zu optimieren. Helligkeits-, Farb- oder Größenkorrekturen, Filtereffekte und, warum nicht, ein bisschen Facetuning gefällig? Also Zähne aufhellen, Lächeln verbreitern oder Haut glätten? All das lässt sich heute schon mit einer App am eigenen Smartphone erledigen und der aufgepeppte Schnappschuss direkt ins Internet stellen. Dorthin, wo sich bereits Fantastilliarden Fotografien kursieren.

Geschätzt 1,2 Milliarden Fotos wurden im Jahr 2013 pro Tag hochgeladen und via Facebook, Instagram oder Snapchat geteilt. Heute dürften es sogar noch mehr sein. Was diese digitale Bilderflut bedeutet, für uns als freiwillige oder unfreiwillige Betrachter, aber auch für die Fotografie als Medium, das wurde noch vor wenigen Jahren heftig diskutiert. Auch ob man bei digitalen Bildern überhaupt noch von Fotografien sprechen kann. Der amerikanische Kunsttheoretiker William T. Mitchell etwa sah schon vor 25 Jahren die "post-fotografische Ära" eingeleitet und die deutsche Zeitschrift Kunstforum International verkündete (etwas verspätet) im Jahr 2004 das "Ende der Fotografie". Ist die Fotografie also bereits Geschichte?

Tatsächlich spricht die Medienwissenschaft inzwischen sogar vom "postdigitalen" Zeitalter. Womit aber keineswegs eine nachdigitale Ära gemeint ist, sondern im Gegenteil, dass die Alltagswelt komplett vom Digitalen durchdrungen ist. Was die Digitalisierung nun konkret für die Fotografie bedeutet, darüber hat sich der amerikanische Professor für Design und Medienkunst Peter Lunenfeld vor 15 Jahren in einem Aufsatz über das "dubitative Bild" Gedanken gemacht. Darin schreibt er, dass die Fotografie aufgrund der digitalen Manipulierbarkeit "dem Zweifel anheimgefallen" sei und sich im Gegensatz zur analogen Fotografie nicht mehr als neutrales Abbild der Wirklichkeit verstehen lasse. Damit falle sie gewissermaßen in einen "präfotografischen" Status zurück, weil nun ähnlich wie bei einem geschriebenen Text die Quelle oder der Kontext des Bildes für dessen Wahrheitsgehalt bürgen müsse.

Das heißt, wir müssen dem Fotografen oder Layouter glauben, dass das auf dem Bild Dargestellte nicht verändert wurde und der Wirklichkeit entspricht. Was interessanterweise eine Aufwertung des Subjekts bedeutet. Ein Umstand, auf den auch der Fotograf und Fototheoretiker Reinhard Matz in seinem kürzlich erschienenen Band "Fotografien verstehen" hinweist. Auch er bemerkt, dass mit der Digitalisierung der Bildproduzent verstärkt ins Bild rückt, während er sich vorher im Dienst des Glaubens an die Neutralität der Fotografie "weitestgehend unkenntlich" gemacht hatte. Aber, so Matz: "Nie gab es neutrale Ansichten der Welt." Im Gegenteil waren Fotografien schon immer Artefakte, die durch subjektive Operationen wie Auswahl, Komposition oder Verdichtung bestimmt sind. Und die mittels Retusche auch schon früher manipuliert wurden.

Der Handy-Schnappschuss dient vor allem der Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung

Dennoch sieht auch er "die Ungewissheit Fotografien gegenüber" wuchern. Und fast scheint es so, als hätte es diese Ungewissheit und die damit einhergehende Aufwertung des Subjekts für die auffällig spät erfolgte, offizielle "Kunstwerdung" der Fotografie gebraucht. Weist Matz doch zudem auf die auffällige zeitliche Parallele hin, die zwischen den Anfängen der Digitalisierung und der gestiegenen Anerkennung der Fotografie als Sammler- und Museumsobjekt in den 1970er- und 1980er-Jahren besteht. Ein Umstand, der wohl seine Erklärung darin findet, dass der Kunstmarkt nun mal große Namen haben will, das heißt benenn- und vermarktbare Subjekte, die am besten noch wie etwa Thomas Struth oder Andreas Gursky opulente, malerische XXL-Formate generieren. Was er dagegen nicht gebrauchen kann, das ist eine chemisch-optische Apparatur, die auf Knopfdruck neutrale, austauschbare Abbilder der Wirklichkeit liefert.

Ironischerweise sorgt die Digitalisierung durch die Vermassung der Fotografie gleichzeitig für einen gegenteiligen Effekt. Die Digitalfotografie ist günstig, fast jeder hat in seinem Handy eine Kamera, dementsprechend viel wird tagtäglich geknipst. Und dabei geht es nur selten um die Schaffung einmaliger Kunstwerke, sondern eher um die Selbstdarstellung und -bestätigung in sozialen Medien, sprich um Kommunikation. Das heißt: Wir teilen uns der Welt in geschönten, "facegetunten" Facebook-Bildern mit. In Bildern, die sich in ihrem Informations- oder Emotionsgehalt sofort erschöpfen und in der Vermassung ihren individuellen Wert verlieren.

Je mehr wir fotografieren, um so fotografischer werden und denken wir

Wenn nun die "Biennale für aktuelle Fotografie" in ihrem Titel von "Farewell Photography" spricht, dann ist darunter das individuelle Bild zu sehen, das an Bedeutung verliert und sich in die von ökonomischen Machtverhältnissen beherrschten Untiefen des World Wide Web verabschiedet.

Die Fotografie als Medium ist dagegen auf keinen Fall Geschichte, sondern allgegenwärtig. Und genauso sollte man in Anlehnung an "postdigital" das Wort "postfotografisch" auch verstehen. Noch nie wurde so viel fotografiert wie heute. Und "indem wir immer mehr fotografieren", so noch einmal Matz, "denken und werden wir mehr und mehr fotografisch". Das geht soweit, dass wir nicht nur die Fotografien, sondern sogar uns selbst und die Welt um uns herum manipulieren, das heißt: sie verschönern, idealisieren, sie ästhetisch für Schnappschüsse herrichten. Weshalb Matz allen Unkenrufen zum Trotz konstatiert: "Das fotografische Zeitalter hat mit der digitalen Fotografie gerade erst begonnen." Wo es uns hinführt, das dürfte am Ende eher eine ethische denn ästhetische Frage sein. Und auf diese gilt es Antworten zu finden. Damit sich gemeinsam mit dem individuellen Bild nicht auch unsere Individualität im digitalen Raum verliert.

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