Lehrstellen-Misere:Die Party ist wichtiger

Immer mehr Azubis werfen hin, weil sie völlig falsche Erwartungen an die Arbeit haben.

Jutta Pilgram

Trauben abwiegen, Regale einräumen, Kisten stapeln? Damit hatte der Abiturient nicht gerechnet. Nach zwei Tagen im Betrieb erklärte er der Ausbildungsleiterin des Lebensmittel-Discounters Handelshof, eine Lehre zum Groß- und Außenhandelskaufmann habe er sich anders vorgestellt. Er brach seine Lehre ab - wie fast ein Viertel aller Auszubildenden in Deutschland.

"Unsere Schulabgänger haben völlig überzogene Erwartungen", sagt Brigitte Runckel, Personalchefin der Kölner Handelshof-Kette. "Sie bewerben sich um eine kaufmännische Lehre und denken, dass sie gleich ins mittlere Management einsteigen. Doch dafür müssen sie erst mal den Unterschied zwischen einer Cherrytomate und einer Fleischtomate kennen."

Es ist nicht nur der Mangel an Wissen, den die Arbeitgeber beklagen und den die Pisa-Studie eindrucksvoll belegt hat. Auch das Verhalten der Berufseinsteiger macht ihnen zu schaffen. Sie treffen auf Bewerber, die während des Vorstellungsgesprächs Handy-Anrufe entgegennehmen und drei Wochen Jahresurlaub für eine Zumutung halten.

Sie haben mit angehenden Köchen zu tun, die abends nicht arbeiten wollen, weil sie dann wichtige Partys verpassen, und mit Bäckereifachverkäufern, die grundsätzlich nicht grüßen. In den Handelshof-Filialen durchlaufen alle Bewerber daher neuerdings einen mehrwöchigen Alltagstest. Eine Lehrstelle bekommt nur, wer während des Praktikums das erwünschte Verhalten an den Tag gelegt hat.

Die Party ist wichtiger

"Man hört schreckliche Geschichten über die Arbeitsmoral der Azubis", sagt Uwe Döring-Katerkamp, Leiter des Kölner Instituts für Angewandtes Wissen (IAW). Doch es fehle eine objektive Analyse der Situation in den Betrieben. Während Ausbildungsabbrüche und Prüfungsergebnisse minutiös erfasst würden, verlasse man sich beim angeblichen Fehlverhalten der Berufseinsteiger auf Erzählungen.

Die IAW-Initiative "Mitarbeiter 2010", an der sich Unternehmen wie Ford, Shell, Metro oder der Gerling-Konzern beteiligen, soll jetzt eine Bestandsaufnahme liefern: Wie entnervt sind Ausbilder wirklich von Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit und Leistungsverweigerung? Und was erwarten die Berufseinsteiger vom Arbeitsleben?

Befragungen von Ausbildern und Berufseinsteigern bestätigen eine erste These des IAW: Viele Verhaltensprobleme beruhen auf Missverständnissen zwischen den beiden "Kommunikationskulturen", wie der Soziologe es nennt. "Die Azubis kriegen eins auf den Deckel, und sie wissen nicht warum." Döring-Katerkamp hält die Berufseinsteiger nicht für unwillig oder gar renitent. "Sie kennen nur die Regeln nicht."

Döring-Katerkamp beschreibt die Jugendlichen als "stark ausdifferenzierte Patchwork-Charaktere", die unter vielen Möglichkeiten, sich zu formen und zu stylen, entscheiden müssten. Weil das großen Aufwand erfordere, zeigten sie nur wenig Aufmerksamkeit für ihren Gegenüber und die Gemeinschaft. Die Unternehmen müssten ihre Grundregeln daher eindringlicher formulieren - möglichst in Form von "Erlebnissen, die sich wie Initiationsriten in den Köpfen der Berufseinsteiger verankern". Als modernes Instrument der Personalentwicklung empfiehlt das Kölner Institut einen selbst entwickelten "Werte-Workshop".

Der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Otto Kentzler, sieht die Sache pragmatischer. Er will "Berufspraxis" als neues Schulfach in der achten oder neunten Klasse einführen. Der Unterricht soll in den Betrieben stattfinden, denn nur dort könnten die Schüler erfahren, wie der Arbeitsalltag wirklich aussehe. "Fleiß, Höflichkeit, Pünktlichkeit und Teamfähigkeit müssen erst einmal trainiert werden", sagt Kentzler.

Er plädiert zudem für längere Pflichtpraktika, auch während der Schulferien. "Dafür kann man schon mal ein paar Tage Freizeit opfern." Die Eltern der Berufseinsteiger dürften nicht locker lassen - sie sollten ihren Nachwuchs zu mehr Hartnäckigkeit bei der Bewerbung um ein Praktikum ermutigen.

An die Eltern wenden sich auch große Ausbildungsunternehmen wie die Fordwerke in Köln oder Degussa in Darmstadt. Sie laden regelmäßig zu Elternabenden ein, damit die Azubis mit Mama und Papa über Konflikte im Betrieb oder über ihre beruflichen Perspektiven sprechen können. "Die Jugendlichen sind dankbar, wenn sich ihre Eltern dafür interessieren, wo sie gelandet sind", sagt Thomas Pabst, Ausbildungsleiter bei Degussa. Und mit den Eltern im Rücken blieben die Azubis häufiger bei der Stange.

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