Kritik an guten Noten:Nicht zu viele Einser, bitte!

Lehrer, deren Schüler zu gute Noten schreiben, werden systematisch ausgebremst. So geht es auch Sabine Czerny: Ihre Klasse lernt einfach zu schnell.

Christian Bleher

Der Satz knallte ihr ins Gesicht wie eine Ohrfeige: "Sie haben sich an das Niveau der Parallelkollegen anzupassen!" Sabine Czerny, seit zehn Jahren Grundschullehrerin, konnte nicht fassen, was der Schulrat da in einer dienstlichen Unterredung befahl. Sich an das Niveau der Parallelklasse anzupassen - das hätte in ihrem Fall bedeutet, sich nach unten zu orientieren, schlechtere Resultate zu produzieren, nicht bessere.

Kritik an guten Noten: Zeugnis-Jubel: Kinder freuen sich über gute Noten. Doch Lehrer können Probleme bekommen, wenn ihre Schüler zu gute Noten schreiben.

Zeugnis-Jubel: Kinder freuen sich über gute Noten. Doch Lehrer können Probleme bekommen, wenn ihre Schüler zu gute Noten schreiben.

(Foto: Foto: ddp)

Doch sie hatte richtig gehört: Was den Vorgesetzten aus dem Schulamt störte, war die Tatsache, dass die Kinder aus Sabine Czernys zweiter Klasse einer Grundschule im Münchner Umland so gut lernten, dass sich die Eltern der Parallelklassen beschwerten.

Seit einem Jahr unterrichtet die 36-Jährige an einer anderen Grundschule in einer vierten Klasse. Und als vor Ende des bayerischen Schuljahres klar wurde, dass 91 Prozent der Kinder aus ihrer Klasse die Berechtigung erhalten würden, auf eine Realschule oder ein Gymnasium zu wechseln, kam es zum Eklat. Schon seit einiger Zeit hatte Sabine Czerny in dem Gefühl benotet, mit jeder Eins, die sie auf eine der klassenübergreifenden Proben schrieb, das Ende ihrer Laufbahn zu besiegeln. Die Rektorin setzte alles daran nachzuweisen, dass so viele gute Noten nicht sein konnten. Sie will sich zu dem Fall öffentlich nicht äußern.

Sabine Czerny konnte zunächst nicht verstehen, warum in Rektoraten, Schulämtern, im Ministerium niemand je wirklich verstehen wollte, wie es ihr mit schöner Regelmäßigkeit gelungen war, die Kinder für das Lernen zu begeistern. Stattdessen kolportierten Vorgesetzte den Ruf einer widerspenstigen Lehrerin, obwohl sie sie selbst gar nicht oder kaum kannten.

Hätte jemand nach dem Wie gefragt, hätte Czerny auf jahrelange Fortbildungen und autodidaktisches Studium in unterschiedlichen pädagogischen, medizinischen und psychologischen Richtungen verweisen können. Sie hätte erklärt, wie wichtig auch liebevolle und respektvolle Hinwendung zum Kind ist - und wie es durchaus sein kann, dass Kinder so erfolgreich lernen.

Ruf als Vollblutpädagogin

Zahlreiche Eltern aus ihren früheren Schulen und aus ihrer derzeitigen Schule versichern, sie sei eine Lehrerin, die diese Fähigkeiten tatsächlich habe, und schildern sie als Vollblutpädagogin, unter deren Einfluss sich ihre Kinder auffällig positiv verändert hätten. Einige setzten sich gar im Schulamt und bei der Regierung ein, als ruchbar wurde, wie unbeliebt sie sich mit ihren Methoden gemacht hatte. Ein Vater fuhr ins Schulamt und erinnert sich noch deutlich, wie er angeherrscht wurde: "Mit welchem Recht kommen Sie überhaupt hierher?"

Mittlerweile aber ist Sabine Czerny klar geworden, dass ihr Ärger viel mit dem Namen Gauß zu tun hat - und noch mehr mit einem System, das die nach dem Mathematiker benannte "Normalverteilung" klammheimlich zur Norm erhebt. Normalverteilung bedeutet, kurz gesagt, dass in der Natur Extreme selten sind, die breite Mitte dafür umso öfter auftritt.

Gauß hätte seine Beobachtung freilich nicht unbedingt in einer Lerngruppe von 30 Menschen machen können, und so schrieb die Kultusministerkonferenz (KMK) bereits 1968 eine kZeugnirienbezogene Benotung vor, statt der bis dahin gültigen Orientierung am Leistungsdurchschnitt der Klasse. Benotet werden darf seitdem nur, in welchem Maße ein Schüler die "Anforderungen" erfülle. Die individuelle Leistungsnorm, die den persönlichen Lernfortschritt zu Grunde legt, wird nicht erwähnt.

Auf der nächsten Seite: Warum Schulnoten nur scheinbar objektiv sind.

Nicht zu viele Einser, bitte!

Unklarer Maßstab

Der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann von der Universität Siegen sagt: "Die soziale Norm ist nicht zulässig, sie wird aber um der Selektion willen erzwungen." Dem KMK-Beschluss zufolge dürfe es den Fall Czerny jedenfalls gar nicht geben.

Der Diplompädagoge und einstige Grundschulrektor Horst Bartnitzky, Vorsitzender des Grundschulverbandes, hat beobachtet, dass Lehrer zwar selten so massiv attackiert werden wie Czerny, erklärt dies aber auch mit ihrem Wohlverhalten: "Die spüren den Druck und handeln ihm gemäß."

Die generelle Kritik an der Notengebung kennt auch die für Czernys Schule zuständige Schulamtsleiterin Henriette Lemnitzer. Doch sie wiegelt ab: Die Gauß´sche Norm sei "schon lange mausetot", es würden keine Notenschnitte für Klassen vorgegeben. Schon im nächsten Satz jedoch betont sie, dass eine Schulleiterin die "verdammte Pflicht" habe, nachzufragen, wie ein ungewöhnlich guter Schnitt zustandekomme. Es gebe "viele Möglichkeiten zu beeinflussen, direkt oder indirekt zu helfen".

Kritiker verweisen seit langem darauf, dass die scheinbar präzisen Schulnoten keineswegs objektiv seien. In einer Expertise der Uni Siegen wird das Experiment des österreichischen Pädagogen Rudolf Weiss zitiert, der 153 Lehrer eine Mathematikaufgabe beurteilen ließ. 41 Prozent von ihnen gaben eine Zwei, 42 Prozent eine Drei, die Eins wurde von sieben Prozent vergeben, die Vier von neun Prozent und ein Prozent der Probanden sahen in der Arbeit sogar eine Fünf.

Es hänge eben stets davon ab, welchen Maßstab man anlege, um eine Anforderung als ausreichend oder ungenügend zu bewerten, sagt Professor Brügelmann. Dieser Maßstab aber sei nicht klar definiert. Nach den Regeln der Statistik sei es überdies eigentlich nicht zulässig, aus Noten, die nur Rangfolgen angäben, Mittelwerte zu errechnen. Und doch werden etwa in Bayern und Baden-Württemberg in den Übertrittszeugnissen Gesamtnoten gemittelt, aufs Hundertstel genau.

"Wir werden genötigt, Versager zu produzieren!"

Auch Czerny fühlt sich inzwischen genötigt, Testaufgaben so zu konstruieren, dass mit Sicherheit ausreichend Vierer, Fünfer und Sechser herauskommen, damit vor dem Komma des Klassenschnitts endlich auch mal eine Drei steht und sie von der Rektorin nicht behandelt wird wie ein störrischer Esel.

Nun aber sind gerade jene Kinder frustriert, die sich aufgrund von sichtbaren Erfolgen wieder für das Lernen begeistern konnten. Auch mit den Eltern treten vermehrt Probleme auf. "Ein Fünferschüler bleibt ein Fünferschüler, egal wie viel Nachhilfe er bekommt, wie sehr sich seine Lehrerin auch um Förderung bemüht, einfach weil es Fünferschüler geben muss. Wir werden genötigt, Versager zu produzieren!", sagt die Lehrerin frustriert. Wütend macht sie der Satz, den sie in vielen Varianten in vielen Kollegien gehört hat: "Es gibt halt nun mal dumme Kinder."

Wie leicht diese Grundannahme zu beweisen ist, erlebte sie bereits in ihrer Zeit als mobil eingesetzte Lehrerin in einer klassenübergreifenden Probearbeit zum Thema "Der natürliche Kreislauf des Wassers". Da wurde zu ihrer Überraschung der Wolkenname "Cirrocumulus" abgefragt.

Sabine Czerny protestierte: Das habe man doch im Unterricht gar nicht vermittelt, da müssten die Kinder ja mehr wissen, als sie wissen können. Aber man brauche doch Fragen, die kaum einer beantworten kann, erwiderten die Kolleginnen. Und beruhigten sie: Der Begriff sei doch in einem Film gefallen, den man gemeinsam angeschaut habe. Da sei man "rechtlich abgesichert".

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