Krise und Krankenstand:Das Ende der Knochenarbeit

Die Deutschen lassen sich immer seltener krankschreiben. Doch mit verbesserten Bedingungen in den Firmen oder der Angst vor der Krise allein lässt sich das nicht erklären.

W. Bartens

Die Wirtschaftskrise schlägt vielen Menschen auf den Magen, fährt ihnen ins Kreuz oder lässt ihren Schädel brummen. Zum Arzt gehen die Menschen aber nicht häufiger - im Gegenteil. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums lag der Krankenstand in den ersten sechs Monaten des Jahres 2009 bei durchschnittlich 3,24 Prozent und damit auf einem Rekordtief.

Krankenmeldung, SZ

Abwesenheit im Betrieb? Das können wir uns nicht leisten, denken viele Arbeitnehmer in dieser Zeit der Wirtschaftskrise. Und so gehen sie vielleicht krank ins Büro, anstatt sich zu Hause auszukurieren. Ärzte warnen vor diesem Verhalten.

(Foto: Foto: SZ)

"Diese Zahl ist doppelbödig", sagt Dennis Nowak, Direktor des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Der Krankenstand hat ja nicht nur etwas mit Krankheit zu tun. In wirtschaftlich schlechten Zeiten gehen auch Leute zur Arbeit, die besser zwei, drei Tage zu Hause geblieben wären."

Nowak nennt dieses Verhalten Präsentismus. Es geht also darum, in der Firma Anwesenheit zu zeigen. Die Leute haben Angst vor einer Kündigung oder anderen Nachteilen und gehen trotz Beschwerden weiter ihrem Beruf nach. Dort erbringen sie aber nur einen Bruchteil ihrer normalen Leistung.

"Ich muss weiter funktionieren"

"Im Vordergrund steht bei vielen Menschen in Krisenzeiten die Überlegung: Ich muss weiter funktionieren", sagt Peter Henningsen, Chefarzt der Psychosomatik an der Technischen Universität München. "In bedrohlichen Situationen mobilisieren viele Menschen Reserven und fühlen sich manchmal auch tatsächlich weniger krank - das gilt für psychische wie für organische Leiden."

Wenn Menschen sich in ihrem Beruf unter Druck fühlen, überfordert sind oder ihr Arbeitsplatz in Gefahr ist, reichen die Reserven nicht ewig. "Die Anpassung von Körper und Geist funktioniert nur bis zu einem gewissen Grad", sagt Henningsen. "Danach gerät man in einen Zustand, in dem man leichter Erschöpfungsschmerzen oder Depressionen bekommt."

Psychosomatiker behandeln seit Beginn der Wirtschaftskrise vermehrt Patienten, die sich als Burnout-Opfer sehen. "Die Vorstellung, dass Arbeit Menschen psychisch krank machen kann, ist gesellschaftlich inzwischen akzeptiert", so Henningsen. "Eine hohe Dunkelziffer gibt es aber noch bei Rückenschmerzen durch Probleme am Arbeitsplatz." Ob die Pein im Kreuz chronisch wird, hängt in erster Linie von der Zufriedenheit im Job ab - und nicht von der Statik der Wirbelsäule.

Arbeitsmediziner Nowak warnt vor voreiligen Interpretationen des Krankenstands. Die Quote werde ja nicht nur von den tatsächlichen Krankheiten, sondern auch entscheidend von der Lage auf dem Arbeitsmarkt und vom Betriebsklima beeinflusst. "Wechselt eine schlechte Führungskraft die Abteilung, steigt in seiner neuen Gruppe garantiert der Krankenstand", sagt Nowak.

Dass sich immer weniger Menschen krankschreiben lassen, hat zudem auch mit der Flexibilisierung der Arbeitszeiten zu tun. Die klassische Arbeitswoche von Montag bis Freitag, acht bis 16 Uhr, ist für immer weniger Arbeitnehmer maßgeblich. "Viele Leute teilen sich ihr Pensum selbst ein", sagt Nowak. "Wenn sie nachmittags unpässlich sind, gehen sie früher nach Hause und hängen abends noch zwei Stunden dran - oder für einen verpassten Tag das Wochenende." Und das taucht in keiner Statistik auf.

"Die Vermischung von Arbeit und Freizeit hat zwar viele positive Seiten, sie fördert aber auch die Selbstausbeutung und damit womöglich wieder neue Beschwerden", sagt Nowak.

Gesundheit der Menschen hat sich verbessert

Der Krankenstand ist seit 1970 vermutlich auch stetig gesunken, weil es immer weniger körperlich anstrengende Jobs gibt, Knochenarbeit wie einst in Bergbau oder Industrie. Und etliche Schwerarbeiter gehen nicht in die Statistik ein, weil zum Beispiel Landwirte und selbständige Handwerker keine Krankschreibung brauchen. Womöglich hat sich auch die Gesundheit der Menschen verbessert. "Die 75-Jährigen heute sind wahrscheinlich so leistungsfähig wie die 65-Jährigen vor 30 Jahren", sagt Martin Halle, Direktor der Sportmedizin an der Technischen Universität München.

Das Bundesgesundheitsministerium warnt vor allen voreiligen Schlüssen: "Ursachen-Forschung lässt sich mit diesen Zahlen nicht betreiben". Die Angabe von 3,24 Prozent bedeute zudem lediglich, dass zu einem bestimmten Stichtag (zumeist dem ersten Arbeitstag eines Monats) dieser Anteil gesetzlich Krankenversicherter eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt habe.

Fällt der erste Arbeitstag in einem Monat in manchen Jahren besonders oft auf einen Montag, kann das die Statistik verfälschen. Montag ist traditionell der Tag, an dem sich die meisten Menschen krankschreiben lassen. Manchen fällt die Umgewöhnung auf den Arbeitsrhythmus schwer, andere müssen noch ihre Freizeitleiden vom Wochenende auskurieren.

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