Kleine Fächer studieren:Spezialist gesucht

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Für 119 "Orchideenfächer" kann man sich hierzulande einschreiben. Gefragt sind zurzeit unter anderem Experten, die eine besondere Sprache beherrschen.

Von Miriam Hoffmeyer

Zurzeit sind an der Universität Heidelberg zwei Bachelorstudenten in Klassischer Indologie eingeschrieben, sechs in Sinologie und zehn in Byzantinischer Archäologie. Inga Skaara hat in Heidelberg Semitistik studiert. In ihrem Semester war nur ein einziger Kommilitone - ideale Bedingungen, um Arabisch, Altaramäisch und Altäthiopisch zu erlernen. "Ich fand Fremdsprachen schon immer faszinierend", sagt die 35-Jährige. "Ein konkretes Berufsziel hatte ich aber nicht." Nach ihrem Abschluss arbeitete Inga Skaara als Sprachlehrerin in Deutschland, dolmetschte und übersetzte fast zwei Jahre für das Goethe-Institut in Ramallah im Westjordanland und ging schließlich nach Brüssel, wo freiberufliche Sprachlehrer ein wesentlich besseres Auskommen haben als hierzulande. "Deutschunterricht ist in Brüssel sehr gefragt, außerdem wollen immer mehr Leute Arabisch lernen", sagt sie.

Der halb liebevolle, halb verächtliche Ausdruck "Orchideenfach" impliziert eine Kombination aus Schönheit und Nutzlosigkeit. Dabei galt auch Informatik in den Siebzigerjahren noch als "Orchidee". Heute gibt es 119 Disziplinen an deutschen Universitäten, die als Kleine Fächer eingestuft werden. Das heißt, dass sie entweder nur an ein oder zwei Standorten durch mehr als drei Professoren vertreten werden oder dass es sie nur an höchstens einem Zehntel der Universitäten gibt. Meteorologie oder Geophysik gehören dazu, doch 90 Prozent der Kleinen Fächer sind Geistes- und Kulturwissenschaften. Das Spezialwissen der Absolventen ist zwar nur in wenigen Berufen gefragt, dafür gibt es aber auch weniger Konkurrenz. Mögliche Arbeitsfelder außerhalb der Hochschule sind zum Beispiel internationale Organisationen, Einrichtungen für Kulturaustausch, Journalismus, Entwicklungshilfe, diplomatischer Dienst oder Museen. Professorin Mechthild Dreyer, Vizepräsidentin der Universität Mainz, spricht von "attraktiven Nischen" auf dem Arbeitsmarkt: Viele Absolventen beherrschten seltene, teils sehr gefragte Fremdsprachen, außerdem seien gerade die Kleinen Fächer besonders international ausgerichtet.

Dreyer leitet die "Mainzer Arbeitsstelle Kleine Fächer", eine Forschungseinrichtung, die sich mit den Exoten von Afrikanistik bis Wissenschaftsgeschichte befasst. Wie die jüngste Erhebung von 2015 zeigt, sind die Professuren- und Standortzahlen der Kleinen Fächer in den vergangenen beiden Jahrzehnten insgesamt stabil geblieben. Innerhalb der einzelnen Fächergruppen gibt es aber deutliche Veränderungen, in denen sich auch politische und ökonomische Entwicklungen spiegeln. So hat sich die Zahl der Professuren in Asienwissenschaften seit 1997 mehr als verdoppelt. Die Religionswissenschaften wuchsen um mehr als 25 Prozent auf knapp 80 Professuren. Sehr stark legten Fächer mit Medien- oder Informatikbezug zu, so stieg die Zahl der Lehrstühle für Bioinformatik von sechs auf 43 Professuren. Deutliche Warnzeichen gibt es dagegen im Bereich der alten Kulturen und Sprachen. So hat die Indogermanistik seit 1997 fast die Hälfte ihrer Lehrstühle und Standorte eingebüßt. Kleinstfächer wie Albanologie, Gebärdensprache oder Vietnamistik lehren bundesweit nur ein bis zwei Professoren.

Eine Initiative kümmert sich um die Vernetzung Kleiner Fächer und fördert E-Learning-Modelle

Von "Strukturprekariat" spricht der Altorientalist Professor Markus Hilgert, Leiter des Vorderasiatischen Museums in Berlin. "Kleine Fächer haben ebenso wichtige Aufgaben wie große, können ihnen aber oft nicht in vollem Umfang entsprechen, weil ihre Strukturen zu schwach sind." Durch Krisen im Ausland könnten kleine Regionalwissenschaften schnell große Bedeutung bekommen. "Eine Wissensgesellschaft muss versuchen, ihre Wissensbestände möglichst breit zu halten, um im Bedarfsfall reaktionsfähig zu sein."

Markus Hilgert hat die Expertenkommission geleitet, die von 2013 bis 2015 die Situation der Kleinen Fächer in Baden-Württemberg untersucht hat. Als Konsequenz wurden unter anderem ein landeseigener "Zukunftsrat Kleine Fächer" und ein Strukturfonds eingerichtet. Jetzt steht eine Million Euro pro Jahr für die Förderung von Modellen zur Verfügung, die die Zukunft der Kleinen Fächer in Baden-Württemberg sichern soll, etwa durch die standortübergreifende Zusammenarbeit von Fächern oder den Aufbau von E-Learning-Modellen. Hilgert hofft, dass ähnliche Initiativen auch in anderen Bundesländern entstehen. Nur durch gute Koordination lasse sich verhindern, dass wegen lokaler Stellenstreichungen bestimmte Teilkompetenzen in einem Fach auf einmal in ganz Deutschland fehlten: "Wenn an allen Hochschulen, die Altorientalistik anbieten, nur Experten für sumerische Keilschrift lehren, ist die Breite des Wissens nicht mehr vertreten. Man kann schnell etwas streichen - aber es ist sehr schwierig, einen Lehrstuhl mit dem dazugehörigen Wissen und Personal wieder aufzubauen."

Um die Berufschancen von Absolventen zu verbessern, hält es Hilgert für sinnvoll, die Regionalwissenschaften mit Themen wie Politik oder Recht anzureichern, welche für die Arbeit etwa in internationalen Organisationen nützlich sind. Absolventen, die ihre Spezialkenntnisse gesellschaftlich einsetzen könnten - beispielsweise in Fragen der Integration, beim Verständnis kultureller Praktiken oder regionaler Konflikte - hätten ebenfalls sehr gute Berufsaussichten.

Inga Skaara könnte sich ihren Arbeitgeber in Deutschland im Moment aussuchen, aufgrund der Flüchtlingskrise werden Menschen mit Arabischkenntnissen dringend gesucht - als Dolmetscher, Übersetzer oder Flüchtlingshelfer. "Arabisten haben eine Blankokarte für den Arbeitsmarkt", sagt Oliver Koppel, Arbeitsmarktexperte beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Doch Skaara will lieber in Brüssel bleiben und an ihrer Dissertation schreiben, vielleicht sogar eine Hochschulkarriere als Semitistin anstreben. Sie ist überzeugt: "In einem Kleinen Fach hat man tolle Chancen in der Wissenschaft!"

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