Karrierechancen für Ingenieure:Vorsprung durch Technik

Ein Ingenieurstudium gilt als Königsweg für den sozialen Aufstieg. Deutsche Arbeiterkinder schafften so den Aufstieg ins Management. Ist das auch die Chance für Menschen mit Migrationshintergrund?

Jutta Göricke

Als sie zehn war, wurde ihre Heimatstadt Podgorica bombardiert. Der Vater, ein Autoschlosser, bezahlte Schlepper, die Melvina, ihren jüngeren Bruder und ihre Mutter aus Montenegro in den Westen bringen sollten. Dreimal wurden sie unterwegs verhaftet und wieder zurückgeschickt. Später, im Heim für Asylbewerber in Luxemburg, wo die Familie ihre Wohnfläche durch Schränke und Laken markierte, lernte sie nicht nur Französisch, sondern auch Russisch, von ihrer Freundin aus dem Abteil nebenan. Das Abitur machte sie während eines weiteren Zwischenstopps in Montenegro, Schriftsprache: Kyrillisch.

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Hoch hinaus: Drei von vier Ingenieuren stammen aus nicht-akademischen Elternhäusern. Zum Vergleich: Mehr als die Hälfte aller Jura- und Medizinstudenten haben Eltern, die auch eine Universität besucht haben.

(Foto: ddp)

Heute ist Melvina Babacic 22 Jahre alt, studiert Ingenieurwesen an der Fachhochschule Aachen, spricht fließend deutsch und jobbt nebenher als Serbisch-Übersetzerin. Wenn sie eines gelernt hat aus ihrem bisherigen Leben, dann ist es, zäh zu sein und sich nicht von Problemen aufhalten zu lassen. Melvina hat einen Plan: "Wenn ich mir nach ein paar Jahren Berufspraxis entsprechende Qualifikationen angeeignet habe, werde ich mich selbständig machen. Ich möchte zeitlich flexibel sein und viel reisen."

Melvina Babacics Plan hat gute Chance aufzugehen. Denn seit der sich verschärfende Fachkräftemangel - vor allem in den Ingenieurberufen - die Unternehmen laut einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln Milliarden kostet, werden Barrieren beseitigt. Heute gilt: Frauen als studierte Techniker? Ja, bitte! Migrantenkinder mit montenegrinischem Abitur? Warum nicht?

Ende März hat das Bundeskabinett ein Gesetz zur Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen verabschiedet. Schätzungen zufolge könnten 300.000 Menschen, die bereits hier leben, davon profitieren. Taxifahrende Kerntechniker, putzende Lehrer. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) fordert in seinem Jahresgutachten "Migrationsland 2011", das "Versteckspiel mit den angeblichen Ängsten der Bevölkerung" zu beenden und dem Fachkräftemangel auch durch die verstärkte Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden zu begegnen.

Dem Gutachten zufolge befürworten das 48,5 Prozent der Deutschen. Zwar setzen nur 14 Prozent der Personalverantwortlichen in Deutschland laut dem Meinungsforschungsinstitut TNS-Infratest auf den Zuzug von Fachkräften aus dem Ausland.

Doch die Politik greift durch: Die parteiübergreifend besetzte "Hochrangige Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung" unter der Führung des ehemaligen nordrhein-westfälischen Integrationsministers Armin Laschet (CDU) und von Ex-Bundesverteidigungsminister Peter Struck (SPD) will den Weg freimachen für qualifizierte Einwanderer: Bis Oktober soll die Kommission einen entsprechenden Entwurf zur Reform des erst seit 2005 geltenden Zuwanderungsgesetzes entwickeln.

Immenser Bedarf an Technikern

Nahezu jedes dritte Kind unter zehn Jahren in Deutschland hat einen Migrationshintergrund - aber nur elf Prozent der Studenten kommen aus einer Migrantenfamilie. Das ist kein Wunder. Denn in kaum einem anderen westlichen Industrieland ist die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsschichten so gering wie in Deutschland. Wer hierzulande mit Eltern aufwächst, die nicht studiert haben, wird selbst vermutlich auch keine Universität besuchen. In Finnland oder den Niederlanden etwa sieht das ganz anders aus. Das zeigen internationale Vergleichsuntersuchungen wie die Eurostudent-Analyse.

Bei dem immensen Bedarf an studierten Technikern trifft es sich gut, dass ausgerechnet das Ingenieurstudium über viele Jahrzehnte als Königsweg des sozialen Aufstiegs galt. Zugute kam das in der Vergangenheit deutschen Arbeiterkindern, die auf diesem Weg mindestens in die Etagen des mittleren Managements vordringen konnten. Auch wenn dieses Erfolgsmodell nicht mehr ganz so reibungslos funktioniert wie einst - das beobachten Experten wie der Elitenforscher Michael Hartmann -, stammen auch heute immerhin drei von vier Ingenieuren aus nicht-akademischen Elternhäusern. Das belegt eine weitere Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft.

Ingenieur zu sein, bedeutet in der Regel, ein sicheres Auskommen zu haben. "Das Studium verspricht eine sichere Rendite, denn ein Ingenieur verdient 25 Prozent mehr als sonstige Akademiker", sagt Oliver Koppel, Verfasser der IW-Studie. Außerdem kämen 60 Prozent der Absolventen von Fachhochschulen, an denen per se ein hoher Anteil der Studenten aus nicht-akademischen Familien stamme.

Warum also soll künftig nicht auch der Nachwuchs der Einwandererfamilien von diesem Bildungsweg profitieren? Für den Münsteraner Soziologen Markus Schölling, der den Zusammenhang von Lebensgewohnheiten, sozialer Herkunft und der Wahl des Studienfachs untersucht hat, ist jedenfalls "wohl kaum ein anderes Studium für Migrantenkinder geeigneter, um in einer überschaubaren Zeit den sozialen Aufstieg zu meistern", sagt Schölling.

Um so erstaunlicher sei es, dass das Potential dieser gesellschaftlichen Gruppe in der Diskussion über den Fachkräftemangel in Deutschland bisher sträflich vernachlässigt worden sei. Man habe sich darauf fokussiert, Frauen für technische Berufe zu erwärmen, man habe sich auf die Unterstützung älterer Ingenieure konzentriert und auf die Rückgewinnung von Abwanderern in andere Berufe. Für Menschen mit Migrationshintergrund aber habe man sich kaum interessiert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Fachgebiets Gender Studies in Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität München (TUM) im Auftrag des Dachvereins "Fakultätentage der Ingenieurwissenschaften und der Informatik an Universitäten - 4ING".

Auswanderungswillige Ingenieure

Dabei steht für den 4ING-Vorsitzenden Gerhard Müller, Ordinarius am Lehrstuhl für Baumechanik an der TUM fest: "Wir können es uns weder wirtschafts- noch sozialpolitisch leisten, nicht die Begabungen aus allen Bevölkerungsgruppen zu erkennen, für ein Studium in den technischen Disziplinen zu animieren und durch die schulische Bildung darauf vorzubereiten." Doch genau daran, an der Bildung, hapert es. Nur etwas mehr als 13 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund besuchen ein Gymnasium im Vergleich zu 44,5 Prozent der Kinder aus traditionellen deutschen Familien.

"Erschreckend"

Geradezu "erschreckend" finden die Verfasser der Studie den hohen Anteil der Kinder mit ausländischen Wurzeln, die ganz ohne beruflichen Abschluss bleiben. Und die im Vergleich wenigen Studenten mit Migrationshintergrund? Sie wählen - der Königsweg ruft - tatsächlich überproportional häufig ein Fach aus dem Ingenieurwesen. Aber ausgerechnet sie sind besonders auswanderungswillig. Ingenieur-Absolventen mit türkischen Wurzeln etwa sind davon überzeugt, in der alten Heimat bessere berufliche Chancen zu haben.

Eine weiteres, erstaunliches Ergebnis der Untersuchung ist: "In den Ingenieurwissenschaften und der Informatik fällt auf, dass der Frauenanteil bei den ausländischen Studierenden größer ist als bei den deutschen." Das ließe, so die Autoren weiter, "die Annahme zu, dass gerade Ingenieurwissenschaften auch für Frauen mit Migrationshintergrund interessant sind, wenn ihre jeweilige Herkunftskultur diese Berufe nicht als männlich konnotiert versteht."

Wie bei Melvina Babacic, die von ihrer muslimischen Familie alle Unterstützung erhält, die sie braucht. Selbst der Bruder, Handwerker wie der Vater, trägt zum Unterhalt der studierenden Schwester bei. Melvinas Beispiel zeigt auch, wie wichtig sprachliche Kompetenz ist, wenn man aufsteigen will. Denn meist sind es mangelnde Deutschkenntnisse, die eine spätere Karriere schon in der Kindergartenzeit torpedieren.

Die TUM-Studie macht deutlich, dass das Bildungssystem von Grund auf renovierungsbedürftig ist und wie stark Reformen einzelner Abschnitte ineinandergreifen müssten, bis es eines Tages so weit sein wird, dass der Fachkräftemangel zumindest teilweise durch Migrantenkinder kompensiert werden kann.

Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft

Bis dahin bleiben nur Hoffnungsträger, die in eine bessere Zukunft weisen. Überflieger wie Melvina Babacic, die den Aufstieg aus eigener Kraft schaffen und dabei kaum auf gesellschaftliche Unterstützung bauen können, sondern immer wieder gegen Widerstände ankämpfen müssen. Mehr Widerstände, als ihre Biographie ohnehin bereithält.

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