Jugendliche und Alkohol:Saufen auf dem Stundenplan

Moralpredigten über Alkohol sind zwecklos, sagt Suchtexperte Johannes Lindenmeyer - er plädiert für kontrollierte "Trinkexperimente". Mit Lehrern. Von den Folgen sind nicht alle Jugendlichen begeistert.

Johann Osel

Koma-Saufen und Flatrate-Partys - der Alkoholkonsum von Jugendlichen ist ein Dauerthema für Eltern und Schulen. Der Suchtexperte Johannes Lindenmeyer, Direktor der Salus Klinik in Lindow, hat das Programm "Lieber schlau als blau" entwickelt. Schüler, auch unter 16 Jahren, sollen in einem Experiment trinken, um den Umgang mit Alkohol zu erlernen. Ein Leitfaden für Pädagogen ist dazu im Beltz-Verlag erschienen. Das Land Brandenburg fördert das Projekt, Lindenmeyer muss sich aber auch Kritik anhören.

Alkoholexzesse enden oft im Krankenhaus

Kontrolliert trinken mit dem Lehrer - können Jugendiche daraus lernen?

(Foto: dpa)

SZ: Koma-Saufen ist unbestritten ein Problem, aber nicht jeder Jugendliche verliert sich gleich in Exzessen. Wird das Thema aufgebauscht?

Lindenmeyer: Man muss man nicht befürchten, dass jeder gleich zum Alkoholiker wird, bloß weil er als Jugendlicher wiederholt über den Durst trinkt. Das ist in wenigen Fällen so. Es ist aber ein Problem, dass viele Jugendliche bis ungefähr zum 25. Lebensjahr brauchen, bis sie den vernünftigen Umgang mit Alkohol gelernt haben. In dieser Zeit ist die Gefahr sehr hoch, durch Alkohol Gewalt zu erleben oder sexuelle Übergriffe. Und man muss sich klarmachen, dass Jugendliche heute lange vorher anfangen Alkohol zu trinken, als es das Gesetz vorsieht. 30 Prozent aller 15-Jährigen hatten schon mehrere richtige Räusche, eine andere Studie sieht sogar ein Einstiegsalter von im Durchschnitt 12,7 Jahren.

SZ: Pubertierende hören eher ungern auf Erwachsene, auf Eltern, auf Lehrer. Sie setzen nun anders an.

Lindenmeyer: Es geht darum, dass ein Jugendlicher eigene Normen für sein Verhalten findet. Und diese sollten ihm gerade nicht von den Erwachsenen aufgedrückt werden, sondern er muss selber dahinterstehen. Eine stabile Identität kann ein Jugendlicher nur durch eigene Erfahrungen entwickeln, er muss sehen, was ihm guttut. Wir ermöglichen - in einem geschützten Rahmen, so dass nichts Schlimmes passieren kann - Jugendlichen, die konkrete Erfahrung zu machen: Ein bisschen Alkohol kann sehr wohl angenehm sein, kann das Leben schöner machen, erleichtert den Kontakt, enthemmt; aber mehr Alkohol, also mehr als zwei, drei Gläser, steigert die positiven Wirkungen nicht mehr, sondern bringt Risiken und Gefahren. Wenn man mit der moralischen Keule kommt, mit Belehrungen, dann juckt das einen Jugendlichen erst einmal überhaupt nicht.

SZ: Im Mittelpunkt des Programms steht ein "Trinkexperiment". Wie muss man sich das genau vorstellen?

Lindenmeyer: Die Jugendlichen sollen vor dem Trinken schätzen, welchen Promillewert sie danach haben, und wie sie glauben, dass sich das auf ihr Verhalten auswirkt. In einem geschützten Rahmen außerhalb der Schule, zum Beispiel im Nebenraum einer Kneipe, trinken sie unter Aufsicht eine vorher vereinbarte Menge. Die Schüler haben dann normalerweise einen Schwips. Systematisch wird geprüft, ob ihre Erwartungen stimmen oder nicht. Sie pusten ins Röhrchen, machen Tests und überprüfen ihr Sozialverhalten. Die Schüler merken gleich, wie ihre Konzentration schon nach wenig Alkohol nachlässt. Und bei der Auswertung einer Videoaufnahme realisieren sie, dass sie mit Alkohol gar nicht so cool wirken, wie sie vielleicht angenommen hatten.

SZ: Inwiefern schätzen sich Jugendliche denn falsch ein?

Lindenmeyer: Der Mythos ist ja: Je mehr Alkohol, desto besser wird alles. Nach einem Koma-Trinken fängt oft das "Veteranengeschnatter" an; sie brüsten sich mit ihren riskanten Erfahrungen. Im Experiment sollen sie erkennen, wie schnell der Zeitpunkt kommt, an dem die negativen Dinge überwiegen. Typisches Beispiel ist die Wirkung auf das andere Geschlecht, dort gibt es grausame Missverständnisse. Jungen sind ab einem bestimmten Alter felsenfest davon überzeugt, dass sie mehr gemocht werden von Mädchen, wenn sie viel trinken. Und manche Mädchen denken genauso umgekehrt. Aber Mädchen schätzen besoffene Freunde in der Regel nicht, und Jungen besoffene Mädchen nur aus niederen Beweggründen.

Gefährliches Experiment?

SZ: Ist das Experiment nicht gefährlich? Ein Schüler, der keine Erfahrungen mit Alkohol hat, kann verleitet werden.

Lindenmeyer: Durch dieses Programm soll niemand verführt werden. Grundsätzlich dürfen nur Schüler teilnehmen, die bereits Alkohol trinken. Nicht-Trinker bestärken wir.

SZ: Sehen die Schüler das Experiment nicht als Halligalli-Veranstaltung?

Lindenmeyer: Wir wollen Jugendliche für das Problem interessieren. Dass sie trinken dürfen, ist eine gewisse Provokation, damit wir zu diesem Ziel kommen. Bei der Durchführung muss man konsequent sein, es ist ja ein Experiment wie mit dem Bunsenbrenner im Chemieunterricht. Es wird festgelegt, wie viel getrunken wird - mehr gibt's nicht. Es geht nicht darum, sich zu besaufen, Gaudi daran zu haben. Die Lehrer sollten am Anfang die Handys einsammeln. Sonst gibt es ständig großspurige Meldungen nach draußen und die Ernsthaftigkeit leidet.

SZ: Entstehen durch ein so kurzes Experiment dauerhafte Einsichten?

Lindenmeyer: Nach ersten Rückmeldungen gibt es kurzfristige Erfolge . Entscheidend ist die Langfristigkeit. Deswegen sind wir froh, dazu eine Studie vom Land Brandenburg gefördert zu bekommen, mit 1600 teilnehmenden Schülern, 800 machen das Programm, 800 sind in einer Kontrollgruppe.

SZ: In Brandenburg lässt das Kultusministerium das Projekt offiziell zu, in anderen Ländern bekunden Lehrer Interesse. Doch nicht jedem dürfte Ihre Vorgehensweise behagen.

Lindenmeyer: Unter Suchtmedizinern und Psychologen sind wir auf positive Resonanz gestoßen. Wir erleben aber bei manchen Schulbehörden massive Vorbehalte. Es wird fälschlicherweise befürchtet, dass wir Jugendliche zum Trinken animieren. Ich sehe keinen Widerspruch zwischen unserem Vorgehen und klassischen Präventionsansätzen, sie ergänzen sich: Natürlich ist es wünschenswert, dass Jugendliche so spät wie möglich anfangen, Alkohol zu trinken. Aber sobald sie trinken, sind sie durch abstinenzorientierte Programme nicht mehr erreichbar. Dann geht es darum, ihnen zu einem möglichst risikoarmen Konsum zu verhelfen. Vor jedem Projekt findet eine Elternversammlung statt, Lehrer und Eltern entscheiden, ob sie unser Programm für geeignet halten. Ich behandle seit 30 Jahren Alkoholiker und weiß, welches Leid Alkohol anrichten kann. Mir zu unterstellen, ich würde Jugendliche leichtfertig an die Flasche bringen, ist abwegig.

SZ: Es ließe sich einwenden, dass man auch ohne solch ein provokantes Programm mit Trinkexperimenten in der Regel zu einem "normalen" Alkoholkonsum findet.

Lindenmeyer: Das ist ja auch der Fall, die Frage ist nur, wie lange dauert das und welche Risiken drohen bis dahin. Wir bieten für viele gefährliche Lebensbereiche Trainings an, nur beim Erlernen eines risikoarmen Alkoholkonsums überlassen wir Jugendliche sich selbst. Beziehungsweise den systematischen Verlockungen der Alkoholindustrie.

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