Jahresgespräch mit dem Chef:Verkannte Pflichtübung

Sämtliche Zielvorgaben erfüllt? Neue Visionen parat? Alle Jahre wieder steht das Mitarbeitergespräch an. Für viele Angestellte und Vorgesetzte eine Alibiveranstaltung. Dabei könnte der Dialog Vertrauen schaffen und die Lust an der Arbeit fördern.

Miriam Hoffmeyer

"Meine größte Angst ist, dass ich vor lauter Verzweiflung wieder anfange zu heulen, wie beim letzten Mal. Das war so was von peinlich." Vor dem Jahresgespräch fürchten sich wohl nur wenige so sehr wie die Sekretärin, die mit diesen Worten in einem Internetforum um Hilfe bat. Trotzdem lösen die turnusmäßigen Dialoge, die in vielen Unternehmen demnächst wieder stattfinden, wenig Vorfreude aus. Ohnehin halten viele das Jahresgespräch für eine Alibiveranstaltung ohne Konsequenzen. Der Vorgesetzte auf der anderen Seite des Schreibtischs denkt oft genauso.

Zu viele Vorgesetzte, meint der Bochumer Wirtschafts- und Personalpsychologe Rüdiger Hossiep, sähen das Jahresgespräch nur "als eine lästige Pflichtübung für die Personalakte". Hossiep ist Hauptautor des Ratgebers "Mitarbeitergespräche" für Personalverantwortliche. Es komme sogar vor, dass der Dialog online stattfinde, kritisiert er, etwa wenn Vorgesetzter und Mitarbeiter in verschiedenen Städten arbeiten: "Das ist eine Farce. Wenn die Leute im Arbeitsalltag wenig Kontakt haben, ist die persönliche Begegnung umso wichtiger."

Jährliche Mitarbeitergespräche, in welcher Form auch immer, sind in den meisten größeren Unternehmen seit Jahrzehnten üblich. Nach einer Umfrage der Wirtschaftswoche vom vergangenen Jahr gibt es sie in 90 Prozent aller Aktiengesellschaften, die im Dax, MDax, TecDax oder SDax aufgelistet sind. Auch in vielen Einrichtungen des öffentlichen Dienstes gehören sie zur Routine. Weniger verbreitet sind sie nur "in Unternehmen, in denen das Personalmanagement rudimentär ausgeprägt ist", etwa im Baugewerbe oder in der Gastronomie, sagt der Wirtschafts- und Sozialpsychologe Klaus Moser von der Universität Erlangen-Nürnberg.

Jahresgespräche finden meist auf den mittleren Ebenen statt, mit Hilfsarbeitern werden sie eher nicht geführt. "Bei nicht so komplexen Tätigkeiten ist das auch weniger angebracht", findet Moser. Hossiep hält dagegen: "Für Niedrigqualifizierte wären Mitarbeitergespräche besonders wichtig. Wertschätzung zu vermitteln ist kein Sozialklimbim." Er weist gern darauf hin, dass das Jahresgespräch sich erst nach dem Betriebsverfassungsgesetz aus dem Jahr 1972 durchgesetzt hat. Damals erstritten die Arbeitnehmer unter anderem das Recht, die Beurteilung ihrer Leistungen und ihre beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten mit der Arbeitgeberseite zu erörtern.

So gesehen sollten Mitarbeiter froh sein über diese Institution. Aber: "Wirklichkeit und Ideal klaffen weit auseinander, in der Praxis ist vieles nicht richtig durchdacht", sagt Hossiep. Das größte Problem ist für ihn die zunehmende Überfrachtung der Gespräche: Einerseits geht es um harte Themen wie Leistungsbeurteilung, Zielvereinbarungen und leistungsabhängige Vergütungen, andererseits aber auch um die Zusammenarbeit zwischen Mitarbeiter und Chef, die Qualität der Beziehung, kurz: um Vertrauen. Hossiep ist überzeugt, dass das nicht zusammenpasst - und schon gar nicht innerhalb einer Stunde abgehandelt werden kann. Die Controlling-Elemente ruinierten das wichtigste Ziel des Jahresgesprächs: "Die Offenheit geht verloren. Kaum jemand wird seinem Vorgesetzten Defizite offenbaren und um Unterstützung bitten, wenn es um Geld geht."

Es gibt allerdings auch Unternehmen, die Leistungsbeurteilung und vertrauensbildendes Gespräch voneinander trennen. Bei der Lufthansa-Tochter Airplus, die Lösungen für das Management von Geschäftsreisen anbietet, führt seit einigen Jahren jeder Mitarbeiter zwei turnusmäßige Gespräche pro Jahr mit seinem Vorgesetzten, firmenintern "Dialog 1 und 2" genannt. Im ersten geht es darum, ob der Mitarbeiter seine Ziele erreicht hat, und um die Vereinbarung der neuen Ziele. Im zweiten, einige Monate später, stehen die Zusammenarbeit und die berufliche Entwicklung der Mitarbeiter im Mittelpunkt.

Mehr Schaden als Nutzen

"Dieses System finde ich sehr gut", sagt Antje Maletzki, die im Produktmanagement von Airplus ein Team aus sieben Mitarbeitern leitet. Mit ihnen führt sie jeweils sogar drei offizielle Gespräche pro Jahr, weil sie die Themen Zielerreichung und Zielvereinbarung lieber getrennt behandelt. "Das kostet viel Zeit, aber der Aufwand lohnt sich. Schließlich muss ich wissen, was in meinem Team los ist und wie es den Leuten geht."

Wie viele andere Unternehmen hat Airplus Leitfäden für die Mitarbeitergespräche entwickelt. Eine Strategie ist darin nicht vorgegeben, wohl aber sind einige Inhalte definiert: So sind im Leitfaden für den "Dialog 2" die Zusammenarbeit, aktuelle Unternehmensthemen wie Work-Life-Balance und eine Zwischenbilanz der Ziele und des Entwicklungsstandes des Mitarbeiters aufgeführt. Maletzki listet vor den Treffen alle Themen auf, die sie ansprechen möchte, damit sie nichts vergisst. "Alles Positive und alles Negative", sagt sie. "Eigentlich bringt einen vor allem die gegenseitige Kritik weiter. Wenn wir nur sagen, dass alles toll ist, passiert ja nichts. Ich mache auch immer konkrete Verbesserungsvorschläge."

Für das Gespräch mit ihrer eigenen Chefin tauscht Maletzki die Rollen, füllt die andere Seite des Vorbereitungsbogens aus und denkt darüber nach, welche Wünsche sie an die Vorgesetzte hat. Früher hat sie in einem anderen Unternehmen gearbeitet. "Da fanden auch regelmäßig Mitarbeitergespräche statt", erzählt sie, "aber die liefen anders. Ziele wurden einfach von oben gesetzt, Wünsche nicht ernst genommen, Kritik überhört. Das war sehr unbefriedigend."

Die Diplompsychologin Christiane Alberternst hat in ihrer Dissertation an der Universität Erlangen Jahresgespräche evaluiert. Dabei stellte sie fest, dass Mitarbeiter in der Regel dann zufrieden waren, wenn sie sich gut vorbereiten, ihre Meinung äußern und mit den Vorgesetzten konkrete Ziele vereinbaren konnten. Ob sie in allen drei Punkten erfolgreich waren, hing allerdings davon ab, ob sich die Vorgesetzten in der Praxis an die organisationsinternen Leitfäden hielten. Doch nicht einmal in einem Viertel der Gespräche, die Alberternst untersuchte, behandelten die direkten Vorgesetzten tatsächlich alle Themen, die von den Personalchefs der Unternehmen vorgegeben waren.

Dabei, so bilanziert Professor Klaus Moser, stiften unzureichend vorbereitete und nachlässig geführte Jahresgespräche mehr Schaden als Nutzen: "Wir stellen fest, dass sich das Vertrauen zum Vorgesetzten und einige Facetten in der Einstellung zur Arbeit und zum Unternehmen insgesamt sogar verschlechtern."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: