Interview:"Viele Rechtsanwälte hören einfach auf"

Tausende Berufsanfänger drängen jedes Jahr auf den Markt und nun droht der Branche noch stärkere Konkurrenz von Nichtjuristen.

Jedes Jahr drängen Tausende Rechtsanwälte auf den Markt. Dieser Zustrom müsse gestoppt werden, sonst sei die Qualität nicht mehr zu halten, sagt Hartmut Kilger, Präsident des Deutschen Anwaltvereins. Nun droht der Branche noch stärkere Konkurrenz. Nach den Vorstellungen der Regierungskoalition soll das Rechtsberatungsgesetz reformiert werden. Künftig sollen stärker als bisher Nichtanwälte Rechtsrat erteilen dürfen. Der Gesetzentwurf wird im Sommer erwartet.

SZ: Herr Kilger, der Anwaltstag steht unter dem Motto "Zukunft der Anwaltschaft". Ist die Lage inzwischen so prekär, dass Sie die Branche selbst zum wichtigsten Thema erhoben haben?

Hartmut Kilger: Ja. Unsere Sorgen sind gewaltig.

SZ: Welche plagen Sie denn am stärksten?

Hartmut Kilger: Die drohende Überfüllung. Mit gegenwärtig rund 130.000 Rechtsanwälte kämen wir ja noch zurecht. Aber jedes Jahr drängen rund achteinhalb Tausend neue Rechtsanwälte auf den Markt, obwohl wir nur die Hälfte brauchen. Wenn der Zustrom nicht schnell abflacht, entstehen schwere Schäden. Die Qualität ist dann nicht mehr zu halten. Wer an der unteren Einkommensgrenze liegt, denkt möglicherweise nur noch daran, wie viel kann ich an dem Mandanten verdienen.

SZ: Droht eine Insolvenzwelle?

Hartmut Kilger: Wir müssen uns Sorgen machen um viele Anwälte, ob sie noch ein auskömmliches Einkommen erzielen können. Eine Insolvenzwelle wird es nicht geben, weil ein Anwalt in die eigene Existenz nicht viel investieren muss. Ein Anwalt hat sein Arbeitsmittel im Kopf. Viele Anwälte hören einfach auf. Das trifft nicht mehr nur junge Kollegen, sondern auch Leute in meiner Altersstufe.

"Viele Rechtsanwälte hören einfach auf"

SZ: Wie viele Ihrer Kollegen sind nur noch im Zweitberuf Anwalt?

Hartmut Kilger: Schätzungen sind schwierig, weil seit 1993 jeder Anwalt mit ganz geringen Ausnahmen alles tun darf. Um ein groteskes Beispiel zu nennen: Ich kenne einen Kollegen, der trägt jeden Morgen die Post aus für die Post AG. Der meldet sich natürlich nicht arbeitslos. Aber sein anwaltliches Einkommen ist praktisch gleich Null.

SZ: Aber das sind Ausnahmen.

Hartmut Kilger: Das war in der Vergangenheit so, inzwischen häufen sich diese Fälle.

SZ: Wie wollen Sie den Zustrom stoppen?

Hartmut Kilger: Es gibt nur ein Mittel: die Ausbildung. Die Zukunftsaussichten als Anwalt werden einfach falsch eingeschätzt. In den Köpfen vieler Abiturienten steckt immer noch die Vorstellung, mit Jura kann man alles werden. Die sehen nur die großen Einkommen. Das ist schlichtweg falsch. Der öffentliche Dienst nimmt nur vier Prozent der Jura-Absolventen auf. Dann gehen noch ein paar in Verwaltung und Industrie. 75 Prozent der Jura-Absolventen können gar nichts anderes als Rechtsanwalt werden.

SZ: Damit läuft die universitäre Ausbildung, die auch nach der Reform in der letzten Legislaturperiode immer noch stark auf den öffentlichen Dienst ausgerichtet ist, eklatant am Bedarf vorbei?

Hartmut Kilger: Vollständig. Die juristische Ausbildung ist völlig ineffizient. Die wahre Reform muss erst kommen. Die seit Anfang Juli vergangenen Jahres geltenden Änderungen der Referendarausbildung ist Augenwischerei. Nach wie vor nutzen die meisten Referendare die mittlerweile neun Pflichtmonate in einer Kanzlei nur um für das 2. Staatsexamen zu pauken. Die universitäre Ausbildung muss entrümpelt und beschleunigt werden. Schon nach dem 1. juristischen Examen sollte sich der Absolvent entscheiden müssen, was er werden will: Richter oder Anwalt.

SZ: Sehen Sie denn Chancen für eine neuerliche Reform der Ausbildung?

Hartmut Kilger: Die anstehende Reform des Rechtsberatungsgesetzes fordert eine Ausbildungsreform geradezu heraus. Man kann nicht demjenigen, der zum Wettlauf antreten soll, eine Eisenkugel ans Bein binden in Form von jährlich mehr als 8000 nicht bedarfsgerecht ausgebildeten neuen Kollegen.

SZ: Warum vertrauen Sie nicht auf die Kräfte des Marktes. Müssen Rechtsanwälte nicht wie andere Berufsgruppen auch damit leben lernen, dass schlechte Standesvertreter aus dem Markt ausscheiden?

Hartmut Kilger: Aber die heißen immer noch Rechtsanwalt. Die Anwaltschaft muss, wie Steuerberater das heute schon tun, ihre Leute selbst ausbilden dürfen, das würde dann auch zum Wegfall des bezahlten Referendariats führen. Nach dem 1. Examen muss sich der Jurist eine Stelle suchen und eine Ausbildung absolvieren, die mit einer zweiten Prüfung endet. Das kann durchaus ein Staatsexamen sein, damit der Staat weiter an der Qualitätssicherung beteiligt ist. Die Ausbildung steuert dann den Markt. In guten Zeiten wird es viele Ausbildungsangebote geben, in schlechten weniger.

SZ: In diesem Fall könnten Sie auch auf das Rechtsberatungsmonopol verzichten?

Hartmut Kilger: Nein. Außerdem besteht gar kein Monopol mehr. Es betreiben doch schon viele Leute ganz legal Rechtsberatung. Auch heute schon dürfen beispielsweise Architekten oder Banken, als Anhängsel zu ihrem Geschäft, Rechtsrat erteilen. In dieser so genannten Annex-Beratung herrscht ein rechter Wildwuchs, der dem Verbraucher nicht dient. Unser Vorschlag für eine Reform des Rechtsberatungsgesetzes sieht eine Einschränkung der Annex-Beratung vor. Die Beratung im Zusammenhang mit Themen wie Bau oder Finanzanlage führt zu Interessenkonflikten des Beraters, die der Kunde gar nicht merkt. Der nichtanwaltliche Berater will in erster Linie verkaufen.

"Viele Rechtsanwälte hören einfach auf"

SZ: Ist der Bürger nicht mündiger und aufgrund der großen Informationsvielfalt urteilsfähiger als Sie denken?

Hartmut Kilger: Der Bürger ist mündig, keine Frage. Aber die Materie ist kompliziert. Im Normalfall kann der Bürger gar nicht beurteilen, ob er schlechten oder guten Rechtsrat bekommen hat. Das Recht ist keine gängige, standardisierte und damit vergleichbare Ware wie Waschpulver oder Autos. Deshalb funktioniert die Regulierung durch den Markt nicht. Die Inanspruchnahme von Recht ist keine Konsumfrage, sondern in den meisten Fällen eine Existenzfrage.

SZ: Trotzdem drängt sich der Verdacht auf, dass Ihr Widerstand in erster Linie der Sicherung finanzieller Pfründe dient.

Hartmut Kilger: Das Wort ist mir zu aggressiv. Es gibt in allen Größenordnungen Kanzleien, die gut verdienen. Das sind nicht nur die Law Firms. Aber im größeren Teil der Anwaltschaft geht es doch gar nicht um Pfründe, sondern langsam um eine Notlage. Zugegeben, unser Widerstand gegen die Reform folgt auch daraus, dass die wirtschaftliche Existenz der Anwaltschaft durch eine verstärkte Konkurrenz von Nicht-Juristen noch stärker gefährdet würde. Aber es geht uns nicht in erster Linie darum. Es muss auch künftig einen Rechtsbereich geben, der der Anwaltschaft vorbehalten ist, nicht im Interesse der Anwälte, sondern der Bürger.

SZ: Welchen?

Hartmut Kilger: Den Bereich, wo der Verbraucher sicher sein muss, dass sein Berater unabhängig ist. Das ist aufgrund der berufsrechtlichen Vorgaben nur bei Anwälten der Fall. Die Rechtsordnung ist mehr als die pure Anwendung von Paragraphen. Es geht um eigene Abwägungen und Wertungen, da spielt die Persönlichkeit des Anwalts eine immense Rolle. Von einem Rechtsanwalt erwarten wir Charakter und Geradlinigkeit. Die Eigenschaften verleiht nur ein wissenschaftliches Grundstudium.

SZ: ... in dessen Genuss gewiss nicht nur angehende Juristen kommen.

Hartmut Kilger: Da habe ich meine Zweifel. Sicher gibt es andere wissenschaftliche Ausbildungen, aber die Besonderheiten der Rechtsphilosophie und -methodenlehre, die solche Persönlichkeiten formen, gibt es nur im Jura-Studium. Alle Bereiche, in denen Recht angewendet wird, sollten den Anwälten vorbehalten bleiben - stärker noch als bisher.

SZ: Das Rechtsberatungsgesetz muss also auch in Ihrem Interesse reformiert werden?

Hartmut Kilger: Nein. Es ist in der gegenwärtigen Form zwar nicht perfekt. Aber wenn in dieser Legislaturperiode nichts geschieht, sind wir keineswegs unglücklich.

SZ: Das neue Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, das am 1. Juli in Kraft tritt, sieht Gebührenanhebungen um durchschnittlich 14 Prozent vor. Entspannt sich damit wenigstens die finanzielle Lage etwas?

Hartmut Kilger: Überhaupt nicht. Die Not vieler Kanzleien lindert sie nicht - schon weil die Querfinanzierung immer weniger funktioniert. In der Vergangenheit bearbeiteten die Kanzleien große und kleine Fälle, gebühreninteressante und gebührenuninteressante Fälle. Die Konsolidierung in der Branche führt dazu, dass die großen lukrativen Fälle zunehmend bei den großen Kanzleien landen, die kleinen bei den kleinen Sozietäten. Die drohen in einer Flut nicht kostendeckender Fälle unterzugehen.

Interview: Elisabeth Dostert

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