Interview:"Kinder brauchen Grenzen"

Erziehung darf nicht nur Freiräume gewähren, sagt der Psychologe Klaus Schneewind.

Wie können Eltern ihren Kindern Grenzen setzen? Wie viel Autorität brauchen Kinder? Und wann ist es sinnvoll, ihren Freiraum zu beschränken? Klaus Schneewind, Professor für Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität, hat das Konzept "Freiheit in Grenzen" entwickelt, das praxisnahe Ratschläge gibt.

SZ: Sind Kinder heute schwerer erziehbar als vor zwanzig Jahren?

Schneewind: Die Ergebnisse mehrerer Studien zeigen, dass eine verhältnismäßig große Zahl von Kindern heute als "schwierig" einzuschätzen ist. Das beginnt schon im Kindergarten: Nach einer Braunschweiger Untersuchung haben fast zwanzig Prozent aller Kindergartenkinder emotionale Störungen oder sind verhaltensauffällig. In den Grundschulen ist es ähnlich: Deutlich mehr als zehn Prozent der Kinder werden von Lehrerinnen und Lehrern als "hoch gefährdet" beschrieben, weil sie aggressiv sind, häufig lügen, stehlen oder schlechte Leistungen erbringen. Diese Entwicklung spüren die Kindergärtnerinnen und Lehrer im Alltag genau: Früher hatten sie ein oder zwei "schwierige" Kinder pro Klasse, heute sind es vier, fünf oder sechs.

SZ: Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Schneewind: Ein zentraler Punkt ist wohl, dass es in den Jahren um 1970 einen massiven Umbruch bei den Wertvorstellungen der Eltern gegeben hat. Seitdem legen viele Eltern gesteigerten Wert darauf, dass sich ihr Kind entfalten kann - "mein Kind soll viele Freiräume genießen, es soll Lebensqualität haben", lauten die Ziele der Eltern. Gleichzeitig finden es Eltern heute nicht so wichtig, dass sich ein Kind in seine Umwelt einfügen kann und dass es Pflichten erfüllt.

SZ: Das bedeutet, dass der autoritäre Erziehungsstil der fünfziger und sechziger Jahre verschwunden ist. Deswegen werden Kinder doch nicht automatisch verhaltensauffällig.

Schneewind: Aber im Alltag entstehen massive Probleme. Denn diese Eltern setzen ihren Kindern wenige Grenzen, weil sie ja den Freiraum der Kinder möglichst wenig beschränken wollen. Kinder aber gehen häufig an die Grenzen dessen, was Eltern zulassen - das ist normal und gehört zu jeder Kindheit. Irgendwann sind diese Eltern mit ihrer Toleranz am Ende, und die Situation kippt. Dann reagieren sie plötzlich autoritär und greifen durch. Später haben sie Schuldgefühle, weil sie so bestimmend waren - und lassen ihren Kindern dann wieder alles durchgehen, um die Schuldgefühle zu besänftigen. Den Kindern aber fehlt eine klare Markierung dessen, was von den Eltern geduldet wird und was nicht. Was die Kinder dadurch letztlich lernen, ist, dass sie nur genügend Zoff machen müssen, um das zu bekommen, was sie wollen.

SZ: Wie sähe - im Kontrast dazu - ein idealer Erziehungsstil aus?

Schneewind: Ich bezweifle, dass es den gibt. Schließlich gibt es weder perfekte Eltern noch perfekte Kinder. Aber eine Fülle von empirischen Daten zeigt, dass eine bestimmte Erziehungs-Haltung für Kinder förderlich ist. Ich würde dieses Prinzip als "Freiheit in Grenzen" bezeichnen. Das bedeutet, dass Eltern ihren Kindern die Möglichkeit geben, sich entsprechend ihren Neigungen zu entwickeln. Andererseits setzen Eltern Grenzen, wo die Freiheiten anderer tangiert sind. Und ein drittes Merkmal: Bei Konflikten gehen diese Eltern mit den Kindern in einer wertschätzenden Weise um.

SZ: Klingt ja sehr schön - aber wie sieht das im Alltag der Mutter eines sechsjährigen Mädchens aus?

Schneewind: Diese Sechsjährige steht im Alltag irgendwann vor ihrem Kleiderschrank und sagt: "Mami, ich weiß nicht, was ich anziehen soll." Die Mutter kann antworten: "Such' dir was aus." Sie kann auch ein blaues und ein weißes T-Shirt nehmen und fragen, welches der Tochter besser gefällt. Sie kann also eine Wahlmöglichkeit anbieten - die Tochter erlebt eine Begrenzung, die die Mutter vorgibt, und gleichzeitig die Möglichkeit der Auswahl. "Freiheit in Grenzen" eben.

SZ: Wie sähe das bei einem Elfjährigen aus?

Schneewind: Ich kann mich an eine Studentin erinnern, die im Seminar von ihrem elfjährigen Sohn erzählt hat. Er hatte sich einen Cassettenrecorder auf die Wiese gelegt und wollte nun zu einem Freund radeln. Die Mutter wollte, dass der Sohn zuerst den Recorder wegräumt. Seine Antwort: "Das mache ich, wenn ich wiederkomme." Die Mutter wusste nicht recht, wie sie das verhindern sollte - und es hat eine Weile gedauert, bis ihr die Lösung klar war. Die Lösung heißt: "Du fährst nicht weg, bevor du den Recorder aufgeräumt hast." Das gibt dem Kind die Verantwortung für den Cassettenrecorder, setzt eine Grenze und lässt einen Freiraum. Denn der Sohn kann sich entscheiden, was er tut. Insofern ist der Satz auch kein autoritärer Befehl.

SZ: Ein Beispiel für eine Siebzehnjährige?

Schneewind: In dem Alter entstehen die klassisch-schwierigen Situationen, wenn die Jugendlichen ausgehen. Wieder geht es nicht um Vorschriften - etwa: "Du bist um 23 Uhr zuhause". Sondern um eine Verhandlungskultur: "Was vereinbaren wir? Wie kommt ihr nach Hause, könnt ihr euch von irgendwem heimbringen lassen?"

SZ: Sie zitieren in einem Aufsatz eine Studie, nach der nur zehn Prozent der Eltern diesen Erziehungsstil beherrschen.

Schneewind: Die Studie entstand in den USA; für Deutschland ist das nicht so gut erforscht. Ich denke aber, dass die Situation hier nicht wesentlich anders ist: Vielen Eltern fehlen Kompetenzen, sich so zu verhalten. Oft stehen sie im Alltag zu sehr unter Druck und greifen zu einfacheren Lösungen - der anti-autoritären Variante oder der autoritären.

SZ: Bloß wie lassen sich die notwendigen Kompetenzen erwerben? Wohl nicht durch die Lektüre eines Ratgebers.

Schneewind: Das glaube ich auch nicht. Die Ratgeber, die die Regale füllen, sind häufig wirklich gut - aber wer ein Buch liest, ist von der konkreten Situation weit entfernt. Wie ich mit praktischen Problemen umgehe, kann ich am besten in realistischen Situationen lernen. Das spricht für verhaltensorientierte Trainings mit Rollenspielen und ähnlichen Lernformen - dabei können Eltern viel über ihre Stärken und Schwächen erfahren. Und sie können versuchen, ihr Verhalten zu ändern. Das klingt ungewohnt - aber man sollte sich klarmachen, dass es in Unternehmen weit verbreitet ist: Manager lernen in Seminaren, wie sie besser kommunizieren, wie sie in ihren Firmen für ihre Mitarbeiter Spielräume eröffnen und Grenzen setzen - warum sollten Eltern nicht mit den gleichen Methoden lernen? Der Deutsche Kinderschutzbund bietet zum Beispiel solche Trainings an: "Starke Eltern, starke Kinder" heißen sie. Und Eltern, denen das zu aufwändig ist, können sich mal unsere CD anschauen - auch da geht es sehr konkret um Erziehungssituationen.

SZ: Viele Eltern werden da skeptisch reagieren - nach dem Motto: "Ich brauche doch keine Hilfe vom Therapeuten."

Schneewind: Den skeptischen Eltern würde ich sagen: "Ihr seid schon gut, ihr könnt es noch besser machen. Wir wollen niemanden therapieren, sondern eure Ressourcen stärken."

Interview: Felix Berth

Die CD-ROM "Freiheit in Grenzen" kostet sechs Euro. Bestelladresse: Lehrstuhl Prof. Dr. Schneewind, Leopoldstr. 13, 80802 München. Außerdem per Mail: kontakt@freiheit-in-grenzen.org.

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