Interview:Ist der Mensch zum Pendeln gemacht?

Pendler verbringen im Schnitt mehr als sieben Jahre in der Bahn. Ein Interview über die Auswirkungen täglichen Pendelns.

Profis im Kampf um Sitzplätze, Meister des Sekundenschlafes: Täglich pendeln viele Menschen zwischen Wohnort und Job. Jutta Göricke fragte Steffen Häfner von der Stuttgarter Forschungsstelle für Psychotherapie, ob Pendeln der Gesundheit bekommt.

SZ: Sie haben Menschen befragt, die täglich mehr als anderthalb Stunden mit der Bahn zur Arbeit fahren. Wie viele Fernpendler gibt es denn insgesamt?

Häfner: Das kann man nicht exakt sagen. Man geht aber davon aus, dass zumindest in die Metropolen zwischen 30 und 60 Prozent aller Menschen, die dort arbeiten, täglich von außerhalb kommen. Für Stuttgart haben wir herausgefunden, dass es 58 Prozent sind, acht Prozentpunkte mehr als noch vor zehn Jahren. Es scheint so, als sei die Mobilität zu einem Wert an sich geworden, als wollten immer mehr Menschen woanders hin.

SZ: Wollen oder müssen?

Häfner: Natürlich müssen sie auch. Die Standortpolitik vieler Betriebe zwingt sie dazu. Hinzu kommt, dass das Wohnen in Großstädten zum Teil unerschwinglich geworden ist. Und Familien fühlen sich draußen im Grünen wohler.

SZ: Wie verkraftet der Mensch das Leben in Paralleluniversen?

Häfner: Der Preis ist hoch. Viele denken, das sei nur auf Zeit. In Wahrheit ist es aber eine Dauerlösung. Im Schnitt saßen unsere Pendler 7,2 Jahre auf der Bahn. Und das geht auf die Gesundheit.

SZ: Inwiefern?

Häfner: Es kommt zu funktionellen Störungen, also zu körperlichen Symptomen ohne organischen Befund. Zwei bis dreimal so häufig wie Normalbürger klagen Pendler über Nacken- und Schulterschmerzen, Gelenk- und Gliederschmerzen, über Schwindel. Viele fühlen sich müde, erschöpft und matt.

SZ: Woran liegt das?

Häfner: Schon allein daran, dass sie viele Stunden im Zug festsitzen und sich noch weniger als andere Büromenschen bewegen. Denn ihnen geht ja auch entsprechend Freizeit ab. Dazu schlafen sie weniger, weil sie so früh raus müssen.

SZ: Können sie nicht einfach schon um neun ins Bett gehen?

Häfner: Das bringt nichts. Denn es kommt auf den Biorhythmus an. Den können Sie so nicht überlisten. Davon abgesehen: Wer will so früh schlafen gehen?

SZ: Kann man denn nicht im Zug ein Nickerchen machen oder die Zeit konstruktiv und entspannend nutzen?

Häfner: Natürlich geht es einem besser, wenn man es schafft zu arbeiten, zu lesen, sich zu entspannen oder wirklich tief zu schlafen. Aber meist ist der Schlaf im Zug nicht effektiv. Fahren Sie mal mit einem Pendlerzug: Die Züge sind überfüllt, man muss froh sein, einen Sitzplatz zu bekommen. Umsteigen erzeugt auch Stress. Das alles lässt sich an den Stresshormonen im Blut nachweisen.

SZ: Welche Rolle spielt indirekter Stress wie Probleme in der Familie, weil der Ernährer so oft weg von zu Hause ist?

Häfner: Generell gilt, dass pendelnde Frauen stärker unter der Situation leiden als Männer, wegen der Mehrfachbelastung durch Arbeit, Haushalt und Kinder. Allerdings sind die meisten Pendlerinnen kinderlos, während pendelnde Männer Familie haben, ja sogar ausgesprochen familienorientiert sind: Sonst würden sie gar nicht pendeln. Sie nehmen die Fahrerei in Kauf, damit den Kindern ein Schulwechsel erspart bleibt oder sie ihr Heim nicht aufgeben müssen.

SZ: Ist der Mensch für das mobile Arbeitsleben gemacht?

Häfner: Nein, eher nicht. Er leidet unter dem damit verbundenen Bewegungsmangel. Schließlich hat die Natur ihn als Jäger vorgesehen, der auf der Suche nach Beute stundenlang durch die Savanne rennt. Aber die Verfügbarkeit schneller Verkehrsmittel, also die vom Menschen erfundene Technik, verführt und zwingt ihn auch zur immobilen Mobilität.

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