Interdisziplinäre Forschung:Oberflächliche Augenwischerei

Wer heute an der Uni Beachtung will, prahlt mit der Interdisziplinarität seiner Forschung. Das bringt die Wissenschaft nicht weiter. Die wenigsten kennen sich in ihrem eigenen Fach gut genug aus.

Peter-André Alt

Wenige Schlagworte des wissenschaftlichen Diskurses werden derzeit so unhinterfragt genutzt wie das der Interdisziplinarität. Nun gehört es zu den Effekten von Worthülsen, dass sie in der Regel nicht zum Nachdenken anregen, sondern nur bedingte Reflexe auslösen. Im Fall der Interdisziplinarität sollte man sich allerdings die Zeit nehmen, die Kette solcher Reaktionen zu durchbrechen. Der Begriff bezeichnet ein Programm, von dem man nicht sicher sagen kann, dass es universitärer und außeruniversitärer Forschung in allen Phasen automatisch nutzt.

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Um interdisziplinär arbeiten zu können, ist eine genaue Kenntnis des eigenen Faches notwendig. Das ist oft ein Problem.

(Foto: dpa)

In der vormodernen Universitätsgeschichte verbanden sich disziplinäre Organisation des Wissens und übergreifende methodische Prinzipien miteinander. Zwar ging die mittelalterliche Artistenfakultät vom Gedanken einer Einheit der Fächer aus, doch war deren Bedingung das Spektrum der sieben freien Künste, von Grammatik und Rhetorik bis zu Musik und Astronomie. Wer die mittelalterliche Universität durchlief, kam notwendig mit einer Vielzahl von Fächern in Berührung, weil diese sich nicht als geschlossene Systeme, sondern als kommunizierende Röhren verstanden. Ihnen fehlte eine jeweils spezifische formale Methodik.

Zwar gab es unterschiedliche Techniken und Verfahren der Wissenserzeugung, doch schufen sie keinen selbständigen Methodenkanon. Genau das ermöglichte das Zusammenwirken der einzelnen Wissensgebiete in einer universelleren Verfahrensweise der Erkenntnis. Sie mochte auf die aristotelische Logik, die ciceronische Topik oder die Hierarchien der antiken Rhetorik gestützt sein - in jedem Fall erzeugte die Methode keine Disziplinen, sondern einen allgemeinen Rahmen für die epistemische Ordnung.

An diesem Prinzip änderte auch die europäische Aufklärung nichts. Noch im 18. Jahrhundert bildete sich mit dem Leibniz-Wolffschen Rationalismus in Deutschland ein Universalsystem aus, das keine Spezialmethoden für einzelne Fächer kannte. Sein Grundmuster war ein logisch-deduktives Beweisverfahren, das sich auf unterschiedlichste Gegenstände von der Naturforschung bis zur Logik anwenden ließ. Fachliche Besonderheiten wurden durch einen Gegenstandsbezug hergestellt, der Merkmale und Strukturen über Beschreibungsprozesse herausarbeitete. Weder in der epistemologischen Grundlegung noch in der Formalisierung des Wissens existierten disziplinentypische Methoden im engeren Sinne.

Der Weg in die Disziplinengliederung wurde durch den Siegeszug des Empirismus im 19. Jahrhundert ermöglicht. Er verschaffte den Naturwissenschaften durch experimentelle Praxis eine selbständige Methodenbasis, die wiederum mit Hilfe morphologischer, taxinomischer oder periodischer Systematiken abgesichert wurde. Parallel dazu vollzog sich die endgültige Emanzipation der Geisteswissenschaften von der Theologie. Methoden wie die wissenschaftliche Textedition und -kommentierung, die historiographische Quellenkritik, aber auch die Verfeinerung der philosophischen Hermeneutik etablierten ein neues Bewusstsein für die Identität einzelner geisteswissenschaftlicher Disziplinen.

Institutionell unterstützt wurde dieser Prozess durch den Ausbau der Fakultäten und die Organisation eines geschlossenen Institutsbetriebs. Die damit verbundene Professionalisierung der akademischen Ausbildung führte zu einer Spezialisierung der universitären Fächer, ermöglichte aber auch eine angemessene Qualifizierung des Nachwuchses für komplexer werdende akademische Berufsmärkte von der modernen Bürokratie über das Schulwesen bis zu Medizin sowie naturwissenschaftlich-technisch fundierter Industrieproduktion. Die Binnendifferenzierung des universitären Fächerkanons blieb gleichermaßen prägend für das wissenschaftliche Selbstverständnis und den Bildungsauftrag der modernen Universität.

Sinnvolle Expansion

Diese Einheit begründet auch an den Hochschulen des 21. Jahrhunderts die Disziplinenstruktur des Lehrbetriebs. Wer allerdings genauer hinsieht, erkennt, dass sich die alten Fachidentitäten vielfach aufzulösen beginnen. Seit jeher haben interdisziplinäre Kooperationsformen auch zur Neugründung von Fächern geführt. In den letzten dreißig Jahren ist dieser Prozess jedoch erheblich beschleunigt worden. Die Praxis interdisziplinärer Zusammenarbeit schlägt sich nicht nur in den Profilen universitärer wie außeruniversitärer Forschung, sondern auch im akademischen Kanon nieder. Die Etablierung von Fächern wie Biochemie, Bioinformatik, Bionik, Medizinmanagement, Informationsdesign oder Neuropsychologie demonstriert das exemplarisch.

Unter institutionellen Gesichtspunkten betrachtet, ist diese Expansion neuer Gebiete durchaus sinnvoll. Wo in der Forschung produktive Grenzüberschreitungen vollzogen werden, verändern sich notwendig die Zuschnitte von Fächern, Curricula und Studienprofilen. Die Gründe für die Erweiterung interdisziplinärer Forschungssektoren liegen aber nicht allein in der Eigendynamik der Wissenschaft. Noch in den 60er Jahren wurde die Forderung nach Interdisziplinarität insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften aus der Perspektive einer umfassenden Methodenkritik vorgetragen - so etwa von Jürgen Habermas in seinen frühen universitätspolitischen Reden.

Heute ist ein interdisziplinäres Konzept dagegen die Bedingung für den Erfolg von Drittmittelanträgen und europäischen Großprojekten, mithin zumeist sehr pragmatisch motiviert. Wer sich dem Verdacht aussetzt, allein zum Fortschritt des eigenen Fachs beizutragen, gilt als wenig innovativ und läuft Gefahr, dass sein Antrag scheitert.

Rapide wächst daher im Rahmen von Drittmittelvorhaben die Zahl der Nachwuchswissenschaftler, die sich in disziplinenübergreifenden Forschungsräumen bewegen. Die meisten der in Deutschland derzeit geförderten Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereiche verfolgen inter - oder sogar transdisziplinäre Projekte. Nicht selten bleibt jedoch bei der Kooperation die Fachbasis auf der Strecke. Die Konsequenzen für die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses sind problematisch.

Wo man zu früh in Zwischenbereiche der Wissenschaft eintritt, droht die Gefahr des Verlusts disziplinärer Identität. Sie aber ist die Voraussetzung für die Überschreitung von Grenzen, soll nicht das Risiko der Bodenlosigkeit entstehen. Die detaillierte Kenntnis der Methoden des eigenen Fachs ist eine zentrale Prämisse für ein erfolgreiches interdisziplinäres Arbeiten. Gerade bei Doktoranden ist diese Kenntnis in den meisten Fällen noch nicht so tief, dass sie wirklich Prozesse der Grenzüberquerung erlaubte.

Es droht Substanzverlust

Deutsches Kabarettarchiv vor 50. Jubiläum

Disziplinäre Forschung bringt die Wissenschaft weiter.

(Foto: dpa)

Philologische Textanalyse, Beherrschung statistischer Auswertung, experimentelle Erschließung von Serien und Abweichungen, Prüfung juristischer Normen - das alles sind Basiselemente einer Forschung, die sich erst dann von den festen Verankerungen der Disziplin lösen darf, wenn sie über ihre Fundamente sicher verfügt. Zur disziplinären Identität gehört aber auch die Kenntnis der Fachgeschichte und Wissenschaftsethik, die es erlaubt, der eigenen Disziplin reflektiert zu begegnen. Eine entsprechende Reihe von Veranstaltungen sollte zum festen Repertoire der qualifizierten Promotionsförderung in Kollegs und Forschungszentren zählen. Gleiches gilt für die Vermittlung zentraler theoretischer und methodologischer Fertigkeiten, die im Zentrum der Einzelfächer stehen. Auch für sie ist in den Curricula der strukturierten - also durch Lehre, Praktika und Mentorierung begleiteten - Promotionsprogramme Rechnung zu tragen. Nur so wird die Tendenz zu immer frühzeitigeren Brückenschlägen zwischen Fächern und die von der Sache her durchaus zwingende Entwicklung transdisziplinärer Forschungsprogramme nicht auf Kosten der wissenschaftlichen Kernkompetenzen des Nachwuchses gehen.

Wer die in Graduiertenkollegs und Sonderforschungsbereichen behandelten Dissertationsthemen betrachtet, den überkommt zuweilen die Sorge, dass den oben genannten Voraussetzungen nicht immer Rechnung getragen wird. Um die Fundamente für seriöse Forschung zu legen, sollten in Graduiertenkollegs künftig "Disziplinenforen" eingeführt werden. Sie würden die Gewähr dafür bieten, dass die Vertreter der Fächer auch einmal unter sich bleiben und ihre spezifischen Themen ohne den Zwang zur Interdisziplinarität diskutieren können.

Differenz entsteht durch Identität. Nur wer das Eigene kennt, kann sich mit dem Anderen gründlich beschäftigen. Weder für die Perspektiven der Fächer noch für die Qualität der Forschung wäre es förderlich, wenn diese einfache Bedingung wissenschaftlicher Arbeit zukünftig weiter außer Acht gelassen wird. Die Universitäten und mit ihnen die großen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung stehen in der Pflicht, die disziplinären Eigentümlichkeiten der Fächer zu sichern und im Kontinuum ihrer Geschichte zu stabilisieren. Sonst droht uns aus schwindender disziplinärer Identität ein wissenschaftlicher Substanzverlust, den auch die Beschwörungsformeln der Antragsprosa nicht verbergen können.

Der Autor ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Präsident der Freien Universität Berlin.

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