Industrie 4.0:Weg von der Hierarchie

Die Fertigungsprozesse verändern sich - mit ihnen auch Ausbildung, Unterricht und Führungsstil, welcher teamorientierter werden dürfte.

Von Bärbel Brockmann

Die Digitalisierung ist ein Megatrend, der nach dem Büro und dem privaten Leben jetzt auch immer schneller Einzug in der Produktion hält. Unter dem Schlagwort "Industrie 4.0" werden zunehmend Fertigungsprozesse digital erfasst und miteinander vernetzt. Darüber hinaus werden Kunden und Lieferanten in den Fertigungsprozess über digitale Vernetzung einbezogen. Wenn ein Kunde ein neues Produkt haben will, weiß der Lieferant schon, was er liefern muss, damit die Produktion das gewünschte Teil fertigen kann. Diese radikale Umstellung erfordert auf Seiten der Beschäftigten ein Umdenken - von der Führungskraft über den Werker an der Maschine bis zum Auszubildenden.

Die Digitalisierung ermöglicht zusammen mit einer weiter zunehmenden Automation in den Betrieben ungleich mehr Flexibilität in der Produktion als früher. Diese Flexibilisierung der Produktion geht mit einer Veränderung der Arbeit einher. Wer jahrzehntelang an einer Maschine immer dieselben Handgriffe gemacht hat, wird sehen, dass das künftig nicht mehr reicht. Seine Maschine ist inzwischen mit anderen verbunden. An ihr ist jetzt vielleicht ein Monitor angebracht, den er per Touchscreen bedienen muss. Er wird dann dort eingeben müssen, wenn etwas an seiner Maschine nicht nach Plan läuft, wenn Material fehlt oder ein Kollege zur Wartung kommen muss. Alle anderen Kollegen an ihren Maschinen bekommen das mit und können sich darauf einstellen.

Der Mitarbeiter muss also dazulernen. Weiterbildung ist deshalb das Gebot der Stunde. "Da entsteht eine große Qualifizierungslawine", sagt Walter Jochmann von der Personalberatung Kienbaum. Ein ganz normaler Werker muss verstehen lernen, wie die Produktion neuerdings tickt. Er muss zumindest grundsätzlich wissen, dass seine Maschine Daten erzeugt, Statistiken über Fehlerwahrscheinlichkeiten aufstellt und vieles mehr. "Neben dem generellen Wissen über die Veränderungen der Produktion braucht jeder Einzelne neues Fachwissen am Arbeitsplatz. Dadurch wird die Verantwortung des Einzelnen zunehmen", prognostiziert Jochmann.

Das wird nicht jedem gefallen. Zwar sind die meisten Menschen in ihrem Privatleben an Computer, Smartphones und andere technische Geräte gewöhnt. Aber Hobby und Job sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. "Der einzelne Mitarbeiter hat eine höhere Verantwortung, weil die Transparenz höher ist. Aber nicht alle Mitarbeiter wollen diese Verantwortung tragen. Sie haben Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie etwas falsch machen", sagt Weiterbildungsexperte Christoph Hauke, der vor allem mittelständische Unternehmen in Personalfragen berät. Nach seiner Erfahrung sind es oft ältere Mitarbeiter, die den Neuerungen am Arbeitsplatz skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, weil sie befürchten, sie könnten sich blamieren. "Die Beschäftigten brauchen zügig Weiterbildungsprogramme. In Zukunft wird es kaum noch Arbeitsplätze ohne neue Bediengeräte, Eingabegeräte oder Assistenzsysteme geben", sagt auch Detlef Gerst, der beim IG-Metall-Vorstand im Ressort "Zukunft der Arbeit" beschäftigt ist.

Zum einen müssen die Werker dazulernen, zum anderen gilt es, die Ausbildung zu überdenken. Auch technikaffine junge Menschen müssen die speziellen Neuerungen vermittelt bekommen, welche die Digitalisierung in ihrem künftigen Berufsleben mit sich bringt. In den Lehrplänen findet man bisher kaum etwas davon. Braucht man deshalb völlig neue Ausbildungsberufe? Gerst von der IG Metall glaubt das nicht. "Nach unserer Einschätzung kann auf dem aufgesetzt werden, was wir haben", sagt er. Berufsbilder wie Mechatroniker oder Produktionstechnologe enthielten schon vieles, was man für die Arbeit im Zeitalter von Industrie 4.0 brauche: sich in Teams zu vernetzen, kreativ Probleme zu lösen, komplexere Systeme aufzubauen und zu warten. "Eine Berufsbildänderung ist ein relativ langwieriger Prozess. Ergänzend erfordern die Veränderungen, die wir jetzt in den Betrieben bekommen, ein schnelles Handeln im Rahmen von Weiterbildung", sagt Gerst.

In Lernfabriken werden die neuen Technologien so vorgeführt, wie sie in der Realität funktionieren

Unverzichtbar aber ist auch die Weiterbildung der Lehrer. Einige machen ihre Arbeit schon mehr als 30 Jahre lang und sind vielleicht gar nicht bereit, noch einmal dazuzulernen. Ebenso wichtig ist die Ausstattung der Berufsschulen mit der neuen Technik. Wie will man den Azubis etwas beibringen, das man ihnen nicht zeigen kann? Ein Weg, die praktischen Anwendungen zu erläutern, geht über sogenannte Lernfabriken. Das sind kleine Demo-Fabriken, in denen Anlagen stehen, die mit allem ausgerüstet sind, was man künftig auch in der tatsächlichen Produktion erleben wird - von Assistenzsystemen über Datenbrillen bis zu elektronischen Infotafeln. Solche Lernfabriken bieten einige Universitäten wie die TU Darmstadt oder auch Forschungsverbünde an.

Die durch die Digitalisierung veränderten Arbeitsplätze erfordern auch eine neue Art der Führung. Das hierarchische, anweisungsorientierte Führen passt nicht zu der flexibler werdenden Arbeit, bei der die Mitarbeiter oft eine höhere Qualifikation haben als früher. Führen heißt künftig vielmehr, die Zusammenarbeit der Beschäftigten erleichtern, Hindernisse aus dem Weg räumen. "Führung wird künftig weniger auf das Individuum bezogen sein als auf das Team", sagt Jochmann von Kienbaum.

In der Regel geschieht die Umstellung der Produktion in stetem Wandel. Schritt für Schritt. Denn die Unternehmen haben Angst davor, alles auf eine Karte zu setzen und dann vielleicht zu sehen, dass es nicht läuft. Das ist auch für die Belegschaft gut, denn die schöne neue Arbeitswelt ist nicht auf einmal da, sondern man gewöhnt sich langsam an sie und kann sich leichter anpassen.

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