Hauptschule:"Wir sind ja eh ganz unten"

Wer von Hauptschule spricht, denkt an Gangs halbstarker Migranten und Lehrer, die weinend aus den Klassen laufen. Doch wenn sich Lehrer, Bürger und Wirtschaft engagieren, muss sie keine Restschule sein.

J. Osel

Es sind nicht Noten, es sind eher Zentimeter, die Akay Ekse kurz vor den Abschlussprüfungen um den Schlaf bringen. 1,67 Meter misst der 15-Jährige, in seinem großen Kapuzenpulli sieht er noch zierlicher aus. Acht Zentimeter muss er noch wachsen, denn erst ab dieser Größe kann man Polizist werden. Ansonsten stimmt bei ihm alles: Er ist Klassenbester, "alles Einser, nur zwei Zweier", und körperlich topfit.

Hauptschule: Matheunterricht: Manche ehrgeizigen Eltern würden Grundschullehrern für ein Übertrittszeugnis ans Gymnasium Haus und Hof überschreiben.

Matheunterricht: Manche ehrgeizigen Eltern würden Grundschullehrern für ein Übertrittszeugnis ans Gymnasium Haus und Hof überschreiben.

(Foto: Foto: ap)

Dass seine Eltern Türken sind, sieht Akay klar als Vorteil: eine andere Sicht der Dinge sei das, Auseinandersetzungen unter Türken könne er in deren Sprache regeln. "Man wächst noch mindestens bis 18", meint er. Und ein bisschen Zeit hat er ja noch: Nach dem Quali, dem qualifizierenden Hauptschulabschluss, im Sommer will er die mittlere Reife dranhängen.

Akay Ekse geht auf die Hauptschule, jene Schulart, die wie keine andere permanent in der Kritik steht. Politiker und Experten wollen sie abschaffen, "Restschule" oder "Resterampe" wird sie genannt. Dann ist die Rede von einer Schule, in der Gangs halbstarker Migranten das Sagen haben, Lehrer weinend aus den Klassenzimmern laufen und Perspektivlosigkeit dominiert.

Britney Spears und Tarkan

Manche ehrgeizigen Eltern würden Grundschullehrern für ein Übertrittszeugnis ans Gymnasium Haus und Hof überschreiben. Nur nicht auf die Hauptschule, die Auffangschule, wo keine Zukunft wartet, kein Einstieg ins Berufsleben. Sondern Hartz IV und ein Leben in der sozialen Hängematte. So zumindest das gängige Bild.

Das Einzige, was an Akays Schule an die Hängematte erinnert, ist das große Wandbild mit Strandkulisse im Schülercafé. Er besucht die Hauptschule in Neustift, einem beschaulichen Stadtteil im ohnehin beschaulichen oberbayerischen Freising. Zusammen mit etwa einem Dutzend Mitschülern aus der neunten Klasse sitzt Akay im Schülercafé und berichtet Sozialarbeiter Tobias Schmitt und Schulleiter Wolfgang Anzinger vom Stand der Dinge bei der Zukunftsplanung.

Ein Drittel ist noch auf der Suche

In der Luft hängt ein leicht muffiger Geruch. Er könnte von den Sportgeräten stammen, die in einem Eckschrank auf die Ausleihe am Nachmittag warten, vielleicht ist es auch der Auberginenauflauf, den die Damen der offenen Ganztagsbetreuung am Vortag hier serviert haben. An den Wänden hängen Poster von Popstars, Britney Spears ist dabei und der türkische Pop-Sänger Tarkan. Am Billardtisch in der Mitte des Raumes ist nichts los, erst am Nachmittag werden die Kugeln klacken.

Schulleiter Anzinger diagnostiziert eine Drittel-Aufteilung wenige Wochen vor den Abschlussprüfungen an seiner Schule: Ein Drittel sei bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mit Lehrstellen versorgt, ein weiteres Drittel will nach dem Quali eine weiterführende Schule besuchen, der Rest sei noch auf der Suche nach einer Ausbildung.

Auf der nächsten Seite: Wie sich die Wirtschaftskrise auf die Lehrstellensuche auswirkt - und wie es sich anfühlt, lauter Absagen auf Bewerbungen zu bekommen.

"Wir sind ja eh ganz unten"

Hartnäckig bleiben

So wie Sandra Blichling. Acht Bewerbungen hat sie bereits geschrieben, Frisörin, Restaurantfachfrau, Einzelhandelskauffrau. Jedes Mal hat sie ihre Zeugnisse, den Lebenslauf und die Bescheinigung über ein Praktikum in einem Modehaus beigelegt. Vier haben bisher abgesagt, "jemand anderer war besser als ich", sagt Sandra traurig, "aber sie haben es höflich umschrieben."

Von den anderen möglichen Arbeitgebern hat sie noch nichts gehört, will aber hartnäckig bleiben. "Anrufen, nachfragen, nerven." Das muss man auch, sagt sie. Ein bisschen Zeit hat Sandra noch, fünf weitere Bewerbungen hat sie schon geschrieben, nur noch nicht abgeschickt. "Vielleicht wird es am Ende nicht immer der Wunschberuf und man muss flexibel sein", sagt Anzinger. Aber: "Mit Quali kriegt bei uns eigentlich jeder was."

Durch die Quali-Prüfung gerasselt

Der Schulleiter will deshalb, dass keiner ohne Quali von seiner Schule abgeht. Tatsächlich werden in Freising-Neustift nur ganz wenige ohne den Zusatz entlassen, weil die meisten, wenn sie durchfallen, die letzte Jahrgangsstufe mit Förderunterricht wiederholen. "Das klappt dann in der Regel auch, denn dann haben die Schüler den Ernst der Lage erkannt", sagt Anzinger.

Er sagt das Wort Arschtritt nicht, meint es wohl aber. Bei Ali Akarsu, einem breitschultrigen sportlichen Typen, war es so, im vergangenen Jahr ist er durch die Quali-Prüfung gerasselt. Jetzt läuft es gut bei ihm, "ich strenge mich auch viel mehr an", sagt er. In den Einzelhandel will er, am liebsten im Modebereich "für die richtig geilen Marken". Eine Lehrstelle hat er sich noch gar nicht gesucht, die Noten sind so gut, dass er noch auf eine weiterführende Schule will.

Die Wirtschaftskrise hat Spuren hinterlassen

Dass seine Schule keine von denen ist, die man am liebsten abschaffen würde, führt Schulleiter Anzinger auf die eigene engagierte Arbeit zurück. Und natürlich auch auf das wirtschaftliche Umfeld in der Region. Zwar hat auch hier die Wirtschaftskrise Spuren hinterlassen. Bei drei Prozent liegt die Arbeitslosigkeit mittlerweile. Im vergangenen Sommer hatten gerade einmal knapp zwei Prozent keinen Job. Das ist bundesweit immer noch ein Spitzenwert, Ökonomen nennen das Vollbeschäftigung. Im Jahr 2008 gab es mehr Lehrstellen als Bewerber. Die Ausbildungsbereitschaft der örtlichen Wirtschaft ist nach wie vor hoch.

Anteil am Erfolg der Region hat der Flughafen München, der auf Freisinger Boden liegt, mit all seinen Dienstleistungen rundherum. Der Flughafen bringt zwar im Sommer die Freisinger Hausfrauen zum Schluchzen, weil die Wäsche auf der Leine nach Kerosin stinkt. Er macht, weil er eine dritte Start- und Landebahn bekommen soll, Tausende biedere Bürger zu Protest-Profis und füllt die Leserbriefspalten der Lokalpresse. Doch wenn der Flughafenbetreiber FMG seinen Airport als "Job-Maschine" feiert, stimmt das auch. 30.000 Menschen sind dort beschäftigt, Tendenz steigend. Und es wird ausgebildet. 262 Lehrstellen bietet allein die FMG mit ihren Töchtern derzeit, zum 1.September kommen 98 neue Azubis.

Auf der nächsten Seite: Was in Neukölln fehlt, ist in Freising da - wie auch das gesellschaftliche Engagement den Erfolg einer Hauptschule beflügeln kann.

"Wir sind ja eh ganz unten"

Den Traumberuf von der Mutter abgeschaut

Einen Ausbildungsplatz am Flughafen, als Restaurantfachfrau bei einer FMG-Gastronomie-Tochter, hat Sarah Timm in der Tasche. Schritt für Schritt ging das bei ihr: Bewerbung, ein Einstellungstest, in dem Allgemeinwissen, Mathe und Deutsch abgefragt wurden, ein Vorstellungsgespräch, und schließlich zwei Tage Probearbeiten in den Ferien. Dort musste sie Besteck polieren, das Menü eindecken, "die ganzen Arbeiten hinter den Kulissen halt", sagt Sarah. Es war ihr Traumberuf, von der Mutter abgeschaut. Als kürzlich der Anruf mit der Zusage kam, war sie gerade im Biergarten. "Ich habe mich so gefreut, ich bin jubelnd durch den Biergarten gesprungen", erzählt die 16-Jährige.

Geklappt hat das mit der Lehrstelle auch bei Johannes Koch, der beim Betreten des Schülercafés wie selbstverständlich seine breite Skater-Kappe neben sich auf den Tisch legt. Das ist in dieser Schule so. Genauso wie kein Graffiti an den Wänden prangt oder kein Zigarettenstummel herumliegt. Johannes wird ab Herbst an der Freisinger Zweigstelle der Technischen Universität (TU) München zum Feinwerkmechaniker ausgebildet werden.

Keine Null-Bock-Einstellung

Zwar hat er die Lehrstelle letztlich über einen Verwandten vermittelt bekommen und musste nur eine einzige Bewerbung schreiben. Allerdings, sagt er mit Stolz, habe er sie sich auch verdient. "Im Praktikum an der TU habe ich alles schon so schnell gekonnt wie die Lehrlinge dort." Wer hingegen Probleme bei der Lehrstellensuche hat, bekommt einen Mentor zur Seite gestellt. Freisinger Bürger helfen dann den Schülern beim Bewerben - ehrenamtlich. Das zeigt, dass auch das gesellschaftliche Engagement den Erfolg einer Hauptschule beflügeln kann. In Berlin-Neukölln fehlt das wohl eher, in Freising aber ist es da.

Hauptschüler werden unterschätzt, "wir können mehr, als alle glauben", sagen viele Schüler in Neustift. Das denkt auch Akay Ekse mit dem Traumberuf Polizist: "Die mit den schlechten Noten sind nicht mehr die Coolen wie früher, im Gegenteil." Eine Null-Bock-Einstellung gebe es an seiner Schule eigentlich kaum mehr. Und dann sagt Akay ein paar Sätze, die vielleicht am besten erklären, warum die Hauptschule Neustift nicht so ganz dem Bild der Resterampe entsprechen mag: "Wir sind ja eh ganz unten. Aber uns stehen viele Möglichkeiten offen. Man muss nur wollen."

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