Generalisten:Abschied vom Tunnelblick

In vielen Berufen wird die Überspezialisierung zurückgefahren. Gefragt ist der Generalist. Er soll Zusammenhänge erkennen und Wissen vernetzen.

Sylvia Englert

(SZ vom 11.8.2001) Das Wissen der Menschheit wächst und wächst. Mit den immer ausgefeilteren und komplexeren Hochtechnologien kamen die Spezialisten: Fachkräfte, trainiert auf das Design ganz bestimmter Schaltungen, die Anwendung ganz bestimmter Enzyme. Sie sind unentbehrlich - und haben doch keinen leichten Stand in der neuen Arbeitswelt.

"Bis vor ein paar Jahren hat man geglaubt, die Spezialisierung gehe immer weiter, die Berufsbilder würden immer enger", sagt Günter Voß, Industriesoziologie an der TU Chemnitz. Doch dann habe es einen historischen Einschnitt gegeben, und diese Entwicklung sei umgekehrt worden: "Seither wird die Überspezialisierung zurückgefahren, und immer generellere Berufsbilder werden geschaffen."

Basisqualifikationen und soziale Kompetenzen

Heute geht der Trend sowohl in den Ausbildungsberufen als auch im Studium zu einer breiten Grundlage mit Basisqualifikationen - am besten gleich mit einem ganzen Strauß von sozialen Kompetenzen wie Team- und Kommunikationsfähigkeit, ohne die auch Fachleute nicht mehr auskommen. Auf diese Basis sattelt man dann die Spezialqualifikationen auf - und tauscht diese bei Bedarf aus. So soll man dem schnellen Veralten des Wissens begegnen können.

Doch nicht nur deshalb hält der Generalist die Trumpfkarten in der Hand.

In vielen Jobs macht sich bemerkbar, dass die Unternehmen auf Prozessorientierung setzen und die Arbeit umorganisieren. "Plötzlich müssen die Leute nicht nur eine Teilaufgabe managen, sondern den gesamten Herstellungsprozess überblicken. Das setzt natürlich voraus, dass die Qualifikationen noch breiter werden als zuvor", meint Dagmar Lennartz vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB).

Generalisten im Aufwind

Zudem wachsen in der sich wandelnden Welt immer mehr Bereiche zusammen, neue Schnittstellen bilden sich: zwischen Biologie und Informatik, zwischen Finanzwelt und Öffentlichkeitsarbeit, Gesundheitswesen und Management, Internet und Gebäudetechnik, Mechanik und Elektronik. Vielseitige Berufe wie der des Wirtschaftsingenieurs haben zur Zeit mehr Aufwind denn je.

Der Generalist kennt sich - im Idealfall - nicht nur in einem Wissensgebiet aus, sondern fühlt sich in mehreren daheim. Der Tunnelblick ist ihm fremd, er ist in der Lage, Zusammenhänge zu sehen und Wissen zu vernetzen. Er ist besser als ein Spezialist in der Lage, in der Praxis zu bestehen, in der immer vielfältigere Aufgaben auf ihn zukommen.

Beispiel: Sicherheitsingenieure, einst Fachleute für Arbeitsschutz, sind immer häufiger auch für Fragen des Umweltschutzes und der Qualitätssicherung zuständig. "Der Nur-Chemiker, der Nur-Ingenieur ohne Grundlagen der Ökonomie und rechtliche Kenntnisse sind Auslaufmodelle", glaubt Dietmar Petzina, Rektor der Ruhr-Universität Bochum, "die Zukunft gehört komplexen, vernetzten Berufsfeldern."

Neue Generation der Nicht-mehr-Spezialisten

Solche betriebswirtschaftlichen Kenntnisse können der neuen Generation von Nicht-mehr-Spezialisten mehr als einmal aus der Patsche helfen: Nämlich auch dann, wenn sie das Abenteuer Selbständigkeit wagen wollen. "Spezialisten, die unternehmerisch tätig werden wollen und eine gute Geschäftsidee haben, müssen auch unternehmerische, also generalistische Fähigkeiten aufbauen, um erfolgreich zu sein. Das hat man in den letzten Jahren in der Gründerszene schön beobachten können", meint Heike Gorges, Geschäftsführerin eines Human-Resources-Dienstleisters.

Wer sich zu eng spezialisiert hat, ist in einer riskanten Situation. "Gerade in techniknahen Bereichen holt sich die Industrie - besonders die großen Firmen - Spezialisten teilweise noch vor den Examina von den Hochschulen", weiß Günter Voß. "So will sie an die neuesten Fachkenntnisse herankommen." Aber den Leuten tue das nicht unbedingt gut, gibt er zu bedenken: "Sie werden in ein paar Jahren ausgelutscht und merken dann, dass auf einmal andere Dinge gefragt sind oder sich der Stand der Technik verändert hat. Oft genug versucht das Unternehmen dann eher, neue Leute zu holen als die alten weiterzuqualifizieren." Wer dann nicht in Führungsfunktionen hineingewachsen ist und dem Spezialwissen ade gesagt hat, der hat kaum noch eine Perspektive.

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