Geistes- vs. Naturwissenschaft:Selber denken kann nicht jeder

Sind Geisteswissenschaftler die besseren Menschen? In der Wissenschaft ist ein Streit um ihre Bedeutung entbrannt. Dabei werden auch die Naturwissenschaften angegriffen.

T. Steinfeld

Vor einigen Wochen veröffentlichte Martha C. Nussbaum, Philosophin an der University of Chicago, ein Pamphlet zur Rettung der Geisteswissenschaften. "Not Für Profit: Why Democracy Needs the Humanities" (Princeton University Press, 2010) ist historischer Abriss und Verteidigungsschrift zugleich, wobei das Plädoyer eine Drohung enthält: "In ihrem Streben nach Vorteilen im internationalen Wettbewerb verzichten die Staaten und ihre Bildungseinrichtungen zunehmend auf die Fertigkeiten, die es braucht, um die Demokratie lebendig zu erhalten. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, werden die Staaten überall auf der Welt bald Generationen von nützlichen, fügsamen, technisch gut ausgebildeten Maschinen hervorbringen, anstelle von selbstbewussten Bürgern, die selber denken und das Hergebrachte kritisieren sowie das Leiden und die Leistungen anderer Menschen verstehen können." Das klingt bekannt und schlicht. Doch druckte das Times Literary Supplement (TLS) Ende April einen Vorabdruck, und an diesen schließt sich seitdem eine heftige Debatte an.

Geisteswissenschaften Naturwissenschaften

"Selbstbewusste Bürger, die selber denken können": Entspringen sie ausschließlich den Geisteswissenschaften?

(Foto: ddp)

Nicht jeder nimmt die Drohung ernst. Die Universitäten, meint etwa Tim Nau (TLS vom 21. Mai), Historiker aus Toronto, seien über den größten Teil ihrer achthundertjährigen Geschichte nichts anderes als Berufsschulen gewesen. Und sein Historikerkollege Keith Thomas (TLS vom 7. Mai) vom All Saints College in Oxford erinnert, auch wenn er die Geisteswissenschaften an der modernen Universität in jeder Weise unterstützt sehen möchte, auf sehr beredte Weise daran, dass die literarische Kultur im England des neunzehnten Jahrhunderts eine Angelegenheit von gebildeten Laien und viktorianischen Zeitschriften gewesen war und erst später vom Professor und seinen akademischen Journalen übernommen wurde.

So offenbart sich, in Debattenbeitrag nach Debattenbeitrag (und ähnlich wie in den Diskussionen, die hierzulande zu diesem Thema geführt worden sind), dass die wenigsten Diskutanten die Geisteswissenschaften in ihrer Größe und Bedeutung gemindert sehen möchten, dass aber gleichzeitig die guten Argumente für ihre zukünftige Förderung fehlen.

Für dieses Dilemma gibt es zwei Gründe, die in Argumenten wie denen von Martha C. Nussbaum von vornherein angelegt sind. Der eine: Die Begründung ist negativ. Sie führt den Schaden an, der entstünde, wenn man etwas nicht täte, und führt hinaus in die unendliche Welt der Möglichkeiten, in der nichts Konkretes mehr zu fassen ist - und wo Tim Naus Einwand, es gebe keinen empirischen Beleg für den Umkehrschluss, Naturwissenschaftler seien schlechte Bürger, durchaus zählt. Der andere Grund: Martha C. Nussbaum tut selbst genau das, was sie ihren Gegnern vorwirft. Sie argumentiert nämlich funktional, also im Hinblick auf den Nutzen, den die Geisteswissenschaften ihrer Meinung nach für die Gesellschaft zu erfüllen haben. Wenn sie auf der einen Seite beklagt, dass die Alleinherrschaft der Natur- und Ingenieurswissenschaften den Menschen in ein "nützliches, fügsames" Wesen verwandelt, dann kann sie nicht gleichzeitig die Nützlichkeit der Geisteswissenschaften für die Demokratie herausstellen, ohne den Menschen dafür auf andere Weise zu einem fügsamen Wesen zu erklären.

So drehen sich die Argumente im Kreis, und auch Keith Thomas kommt keinen Schritt voran, wenn er, wiederum ex negativo argumentierend, behauptet, die höhere Bildung sei eine "lebenswichtige Tätigkeit, ohne die wir schnell in einen ignoranten Solipsismus zurückfallen, ohne Verständnis der Vergangenheit oder Kenntnis von anderen Sprachen und Kulturen". Tatsächlich hat es aber einen solchen Solipsismus nie gegeben, was unter anderem daran liegt, dass das Wissen der Geisteswissenschaften auch außerhalb der akademischen Disziplinen zu Hause ist, und zwar nicht nur als Wissen von der Vergangenheit oder von anderen Sprachen und Kulturen, sondern als Wissen um die ideellen, um nicht zu sagen: geistigen Gründe der technisch-naturwissenschaftlichen Welt - um von den geistigen Gründen des Kapitalismus gar nicht erst anzufangen.

Luftige, falsche Versprechen

Das Ranking der Jiaotong Universität in Shanghai, die international einflussreichste Gradierung von Einrichtungen der tertiären Bildung, nehme gar keine Rücksicht auf die Geisteswissenschaften, beklagt Keith Thomas. Das mag so sein, und doch liegen jedem solchen Ranking Annahmen zugrunde, von der Messbarkeit des Wissens über die Hierarchien der Wissensgebiete bis hin zur Neuordnung der akademischen Disziplinen nach betriebswirtschaftlichen Standards, die Gegenstände der Geisteswissenschaften sind - und die sich in ihrer geisteswissenschaftlichen Behandlung sofort als interessierte Fiktionen, als Figurationen des Wettbewerbs entpuppen. Und auch die innige Verbindung, die Martha C. Nussbaum zwischen den Geisteswissenschaften zieht, gehört überprüft. Denn kein Wissen ist demokratisch, und akademische Disziplinen sind es schon gar nicht.

Studium

Welches Studium ist besser? Konkurrenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften ist manchmal durchaus spürbar.

(Foto: dpa)

Die Fähigkeit zur "Imagination" sei denn auch das wichtigste Ziel der Geisteswissenschaften, erklärt Martha C. Nussbaum, und Keith Thomas spricht von der "Unabhängigkeit des Kopfes" oder von "geistiger Beweglichkeit". Das sind ehrenwerte Ziele, aber eher, als dass sie etwas über die Geisteswissenschaften sagten, sind sie eine Reflexion auf ein berufspolitisches Dilemma - darauf nämlich, dass man die akademische Freiheit, die man so gern genießt, nur dadurch verteidigen zu können meint, dass man der Politik ebenso luftige wie letztlich falsche Nutzenversprechen gibt.

Keith Thomas zitiert einen Satz von John Maynard Keynes aus dem Jahre 1927: Die Aufgabe des nicht-berufsorientierten Lernens, meinte der vielseitig gebildete Ökonom, sei es, "Charakter und Geist des Menschen so zu entwickeln, dass er die Eigenheiten eines jeden Gegenstands, mit dem er sich in der Folge beschäftigt, schnell und sicher durchdringt".

Das wäre tatsächlich eine Definition der Geisteswissenschaften, und wenn sie gälte, hätte sie Konsequenzen für ihr Verhältnis zum Rest der akademischen Welt - dann würden sie nämlich im Totalitarismus des funktionalen Wissens einen Gegner erkennen und nicht ruhen, bis sie dessen begriffliche Grundlagen zerstört hätte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: