Ganztagsschulen:Halbherzig ganztags

Pauken in der Früh, Wellness-Programm am Nachmittag: Wie es an Ganztagsschulen zugeht. Eine bundesweite Studie zieht erstmals Bilanz.

Tanjev Schultz

Politiker tragen gern dick auf, aber in diesem Fall hat die frühere Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) recht behalten. Die Einrichtung von Ganztagsschulen "ist die umfassendste Bildungsreform, die in den letzten Jahren begonnen wurde", sagte Bulmahn vor anderthalb Jahren und feierte sich und die rot-grüne Regierung für das Vier-Milliarden-Euro-Programm, mit dem der Bund von 2003 bis 2009 den Ausbau von Ganztagsschulen fördert. Das Projekt war lange umkämpft, die Bundesländer wollten sich nicht hineinregieren lassen. Doch der Trend zur Ganztagsschule war nicht zu stoppen.

Pauken in der Früh, Wellness-Programm am Nachmittag: Wie es an Ganztagsschulen zugeht. Eine bundesweite Studie zieht erstmals Bilanz.

Nie mehr Stress daheim wegen Hausaufgaben: Den Familien tut's der Studie zufolge gut, wenn die Aufgaben schon in der Schule erledigt werden.

(Foto: Foto: istockphoto)

Vor fünf Jahren zählten die Kultusminister nur 4951 Schulen mit Ganztagsbetrieb. Nach bisher unveröffentlichten Zahlen aus dem Schuljahr 2005/06 sind es mittlerweile 8226. Bald wird jede dritte Schule in Deutschland ein Ganztagsangebot haben. Erstmals gibt nun auch eine bundesweite Untersuchung Einblicke in die Konzepte und Nöte des neuen Schultyps. Für die "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen", kurz StEG, die an diesem Montag in Berlin vorgestellt wird, haben Bildungsforscher aus Frankfurt, Dortmund und München 373 Schulen untersucht und mehr als 30.000 Schüler, 22.000 Eltern und 10.000 Pädagogen befragt. Bis auf Baden-Württemberg und das Saarland beteiligten sich alle Länder an der Erhebung vor zwei Jahren. Die Ergebnisse zeigen: Der Umbau der Schulen ist in vollem Gange - aber an vielen Stellen hakt es noch.

Wo Ganztagsschule drauf steht, sind oft nur Halbtagsschüler drin.

Die meisten neuen Ganztagsschulen verstehen sich als offene Angebote. Die Schüler können, müssen aber nicht am Nachmittag teilnehmen. Nach der Definition der Kultusministerkonferenz sind Ganztagsschulen Einrichtungen, die an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot haben (sieben Zeitstunden oder mehr am Tag) und den Schülern ein Mittagessen servieren.

Trotz der gestiegenen Zahl an Schulen nehmen bundesweit nur 15 Prozent aller Schüler am Ganztagsbetrieb teil. In mehr als der Hälfte der in StEG untersuchten Grundschulen beteiligen sich weniger als 40 Prozent der Kinder am Ganztagsbetrieb (mittlere Graphik). Der Sprecher des Forschungsteams, Eckhard Klieme vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt, spricht von einer "instabilen Klientel", die eine kontinuierliche Arbeit erschwere.

Viele Jugendliche "spielen im Ganztagsbetrieb nur eine Gastrolle", heißt es in der Studie. Das Institut der deutschen Wirtschaft formulierte es einmal drastischer und sprach von "Etikettenschwindel". Ganztagsschulen, in denen die Teilnahme am Nachmittag verbindlich ist, gibt es bisher nur wenige.

Nachmittagsangebote gehen nicht auf Kosten gemeinsamer Familienzeit.

Die Sorge, Ganztagsschulen könnten das Familienleben zerstören, ist offenbar unbegründet. Es gebe kaum Auswirkungen auf das "Familienklima", berichten die Forscher. Erwartungsgemäß gibt es zwar weniger gemeinsame Mahlzeiten, doch Eltern und Kinder verbringen ähnlich viel (teilweise sogar mehr) Zeit miteinander wie Halbtagsschüler (Graphik rechts). Entfallende Hausaufgaben wirkten sich "tendenziell positiv" auf das Familienleben aus. Den Jugendlichen bleibe aber weniger Zeit für ihre Cliquen.

Ganztagsangebote werden unabhängig von der sozialen Herkunft genutzt.

Die Ganztagsschule sei "weder eine Elite- noch eine Benachteiligten-Schule", sagt StEG-Forscher Thomas Rauschenbach erleichtert. Der Direktor des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München hatte befürchtet, die Angebote am Nachmittag könnten in erster Linie von Kindern aus bestimmten Schichten wahrgenommen werden. Die Daten zeigen nun aber eine Beteiligung unabhängig von der sozialen Herkunft. Allerdings planen Bundesländer wie Bayern den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsangeboten speziell an Hauptschulen. Und in ihnen gibt es überdurchschnittlich viele Migrantenkinder.

Halbherzig ganztags

Pädagogische Spielräume könnten noch besser ausgefüllt werden.

Von Ganztagsschulen erhoffen sich Bildungspolitiker nicht zuletzt bessere Leistungen der Schüler. Wie sie sich auf die Fähigkeiten der Jugendlichen auswirken, kann StEG zwar bisher nicht beantworten, weil es keine Kombination mit Leistungstests gab. Die Forscher sehen aber noch zu wenig Beispiele für unterrichtsbezogene Projekte, die sich positiv auf die kognitiven Fähigkeiten der Jugendlichen auswirken könnten. Abgesehen von der Hausaufgabenhilfe würden gezielte Fachangebote nur von wenigen Schülern besucht. Der Schritt zu mehr individueller Förderung sei noch zu wenig sichtbar, sagt Eckhard Klieme.

Mehr als die Hälfte der Schulleitungen räumt ein, dass der Fachunterricht am Vormittag und die Angebote am Nachmittag nur wenig verbunden sind. Thomas Rauschenbach vom DJI sagt, es sollte nicht so sein, dass es vormittags den "Ernst des Lebens" gebe und nachmittags ein "Wellnessprogramm". Die Bildungsforscher fordern mehr lernorientierte Angebote und eine bessere Verknüpfung mit dem Unterricht.

Leider würden auch viele Ganztagsschulen, in denen die Teilnahme am Nachmittag obligatorisch ist, diesen Brückenschlag nur unzureichend hinbekommen, sagt StEG-Forscher Heinz Günter Holtappels vom Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung. Er spricht von einem "Bikini-Modell", in dem zwei Teile - Unterricht und Zusatzprogramm - unverbunden blieben. Selbst echte Ganztagsschulen mit einem Pflicht-Programm am Nachmittag "schöpfen ihre Möglichkeiten oftmals nicht aus", heißt es in der Studie. Vieles hänge von der einzelnen Einrichtung und ihrem Team ab.

Die Schulen müssen stärker unterstützt werden; nötig sind mehr professionelle Pädagogen.

Ein Drittel der Schulleiter ist unzufrieden mit der Personalausstattung. Um die Angebote am Nachmittag besser auf den Unterricht abzustimmen, müssten mehr professionelle Pädagogen eingestellt werden. Viele Schulen setzen auf ehrenamtliches Engagement und auf geringfügig beschäftigte Erzieher und Sozialpädagogen. Gemeinsame Fortbildungen mit den Lehrern gibt es zu selten.

Auch hier zerfalle der Tag oft in zwei personell unverbundene Teile, sagt Holtappels. Er schlägt vor, dass Schulen eine Kernzeit bis 14 Uhr 30 einrichten, in der die Fachlehrer in die Angebote eingebunden werden könnten. Dies liefe aber darauf hinaus, den Schulen wesentlich mehr Lehrer zu genehmigen.

Vereine profitieren von Kooperationen, sie brauchen sich durch Ganztagsschulen nicht bedroht zu fühlen.

Ganztagsschulen haben vielfältige Partner: Musikschulen, Betriebe, die Jugendhilfe und vor allem Sportvereine. Diese Organisationen würden durch die Arbeit in den Schulen Zugang zu Jugendlichen gewinnen, die sie bisher nicht erreichen konnten, schreiben die Wissenschaftler. "Das große Vereinssterben ist bisher ausgeblieben", sagt Thomas Rauschenbach.

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