Fördern und fordern:Werte fürs Leben

Im Internatsdorf Haubinda werden Kinder und Jugendliche in naturnaher Umgebung handwerklich und künstlerisch ausgebildet. Dabei üben sie Regeln ein, die einem guten Miteinander dienen.

Von Stephanie Schmidt

Wenn ein Comic als Motivationsschreiben daherkommt, ist das schon etwas Besonderes. Ja, sogar eine als Schatzkarte gestaltete Bewerbung hat Schulleiter Burkhard Werner schon mal erhalten. Die Pädagogen des südthüringischen Internatsdorfs Haubinda finden es wichtig, dass sich Kinder und Jugendliche bei der Bewerbung Mühe geben. Am liebsten führt Werner die Aufnahmegespräche selbst. Der Direktor ist ein kräftiger Mann mit blauen Augen, buschigen Brauen und Schnauzbart. Sein Auftreten: freundlich, aber bestimmt. Werner erwartet überzeugende Antworten auf die Fragen "Warum soll ich dich nehmen?" und "Was möchtest du erreichen?". Er rät Interessenten: "Komm doch mal drei Tage zum Probewohnen und schau dir alles an."

Weshalb interessieren sich Eltern und ihre Sprösslinge für dieses Internat? Haubinda, ein Ortsteil der Gemeinde Westhausen, bietet die ganze Palette der Abschlüsse, das ist einer der Gründe. Grundschul-, Hauptschul-, Realschul- und Fachoberschulausbildung (FOS), im vergangenen Jahr hat man zudem die dreijährige Oberstufe (Klasse elf bis 13) eingeführt: Die Jugendlichen können am Beruflichen Gymnasium (BG) das Abitur machen und müssen dafür die fünf Leistungskurse Deutsch, Mathematik, Englisch, Wirtschaft und Biologie belegen.

Joneida Kouakoua ist hier, "weil ich nächstes Jahr Abi machen will. Und weil meine Eltern wollten, dass ich aus der Großstadt wegkomme", erzählt sie. Die 19-Jährige stammt aus einer in Frankfurt am Main lebenden, spanisch-marokkanischen Familie und wohnt seit zwei Jahren in Haubinda. Hier lernen junge Leute in Klassen mit maximal 18 Schülern. Karl Haberecht, 17, stammt aus der nur circa zehn Kilometer vom Internat entfernten Stadt Bad Colberg-Heldburg. Wie Joneida strebt er das Abitur an, aber erst für 2018. Seit bald fünf Jahren geht Karl in Haubinda zur Schule und besucht die elfte Klasse. "Mit den Lehrern aus meiner früheren Schule hat es nicht so geklappt, aber hier fühle ich mich sehr wohl", sagt er. In Haubinda wurde er sogar zum "Kanzler" gewählt, "das ist eine Art von Schülersprecher". Der eloquente junge Mann vermittelt zwischen Lehrern und Schülern, er ist bei offiziellen Anlässen mit von der Partie, wenn es gilt, das Internat zu repräsentieren.

Internat Haubinda

Sich um andere zu kümmern, zählt viel im Internatsdorf Haubinda, das in Wiesen und Wald eingebettet liegt.

(Foto: Haubinda)

Hier habe sie die Ruhe, um sich auf die Prüfungen vorzubereiten, sagt Joneida, die in die zwölfte Klasse geht. 90 Hektar Fläche umfasst das in eine Hügellandschaft mit Wiesen, Äckern und Wäldern eingebettete Internatsdorf; das Smartphone funktioniert nur an wenigen Stellen. Natur, so weit das Auge reicht. Hier spaziert ein Graureiher über die sumpfige Wiese, dort kreist ein Bussard über den Feldern. Einzelne Wachtürme erinnern daran, dass im Landkreis Hildburghausen einst die Zonengrenze verlief - heute dienen viele von ihnen als Vogelbrutstätten.

Auch im Internatsdorf gibt es viele Tiere, die von den Schülern versorgt werden - Hühner, Hasen, Puten, Schafe, Schweine und Pferde. Realschüler können unter drei Zweigen wählen - es gibt einen landwirtschaftlichen, einen für künstlerisch und musikalisch Begabte sowie den Bereich Natur und Technik für an Biologie und Chemie Interessierte. Die Realschulklassen befinden sich im Hauptgebäude, einem repräsentativen Fachwerkbau aus dem Jahr 1901. In jenem Jahr gründete Reformpädagoge Hermann Lietz die Hermann-Lietz-Schule Haubinda - so hieß sie einst.

400 Kinder und Jugendliche werden in Haubinda unterrichtet, die Jüngsten sind sechs oder sieben Jahre alt. Eine große Verantwortung für den Direktor. "Wir sind stark für Kinder, die etwas länger brauchen für ihre Entwicklung", sagt er. Werner ist ein Mensch, der oft und herzhaft lacht, aber auch einer, der sich viele Sorgen um die Kinder macht. Der Direktor empfindet sich als Familienvater für die Schüler. "Ich bin mit vier Geschwistern aufgewachsen, das prägt." Bereits seit 1988 lehrt er Mathe und Physik in Haubinda, seit 2001 ist er Gesamtleiter für Schule und Internat. Die schnelle Taktung des Lebens an ihren Heimatorten, all die Ablenkungen, das sei für viele Kinder nicht gut, auch deshalb kämen sie ins Internat.

Internat Haubinda

Im Internatsdorf werden die Tieren von einigen Schülern versorgt.

(Foto: Haubinda)

Sehr wichtig sind Werner Regeln, zumal sie auch den Gemeinschaftsgeist stärkten. So sei der "Kapellentag" des Internats eine "heilige Kuh": Jeden Mittwochabend ist es in Haubinda Pflicht für alle Kinder und Jugendliche, eine Stunde lang eine Veranstaltung zu besuchen, an der andere Schüler mitgewirkt haben - zum Beispiel ein Konzert mit klassischer Musik, ein Vorlesewettbewerb oder eine Spendenübergabe an ein Kinderhospiz.

Regeln - ein vielschichtiges Thema in Haubinda. In Fällen von Beleidigung oder Diebstahl kommt der Übeltäter vor ein Schülergericht, wo Karl als Richter wie als Verteidiger Erfahrungen gesammelt hat. "Die Schüler entscheiden über die Strafe, der Lehrer segnet das Urteil ab", erläutert Karl; das Prozedere ähnele dem eines echten Gerichts. Und wie sieht ein solches Urteil aus? "Das kann eine Art von Arbeitsdienst sein, zum Beispiel, dass man das Geländer im Treppenhaus reinigen muss. Oder dass man einen Aufsatz zum Thema 'Respekt' schreiben soll", erklärt er. Sich an die Regeln halten, das heißt auch, auf Freiheiten verzichten. Werner erzählt von einem ehemaligen Internatsschüler, der im Alter von 24 Jahren nach Haubinda kam, um das Fachabi nachzuholen. Montags bis freitags musste er seinen Wagen stehen lassen, weil das Autofahren für Schüler in diesem Zeitraum verboten ist. Ein Unterschied zu staatlichen Schulen besteht darin, dass der Direktor wie auch einige Pädagogen auf dem Schulgelände leben. Im Sommer ist um 22 Uhr Nachtruhe, im Winter müssen die Kinder um 21.30 in den Betten liegen. "Denn sonst könnte ich nicht mehr ruhig schlafen", sagt der Direktor. Rauchen darf man offiziell erst ab 18, Biertrinken ist von 16 Jahren an erlaubt - samstags in einer Scheune, allerdings nur unter Aufsicht.

Nach dem Unterricht trödeln, ist nicht. Die Kinder engagieren sich am Nachmittag in Gilden

Einfach mal nach dem Mittagessen mit dem Fahrrad spazieren fahren oder ein bisschen trödeln, ist nicht. Kinder aller Altersgruppen haben nachmittags Förderunterricht in Fächern, in denen sie es nötig haben, und sie sind in Gilden aktiv. "Eine Gilde ist so etwas wie eine AG", erklärt Karl. Jeder Schüler besucht zwei verschiedene Gilden, jeweils an zwei Nachmittagen, so ist es Usus. Geleitet werden sie von Handwerkern und Lehrern. Insgesamt hat das Internatsdorf 100 Angestellte, darunter auch eine Hausdame, die sich um die Blumendekoration der Mensa kümmert. Alle möglichen Interessengemeinschaften gibt es hier - eine Musikgilde, eine Imkergilde, eine Nähgilde, die Wolle der internatseigenen Schafe verarbeitet, eine Feuerwehrgilde, eine Schreinergilde, die Nützliches aus Holz fertigt - von der Mausefalle bis hin zum Design-Weinflaschenhalter -, oder eine Backgilde. Wobei in einer solchen AG nicht die besten Noten kriegt, wer die fluffigsten Muffins bäckt, sondern wer besonders hilfsbereit ist. Nach Lust und Laune die Gilde zu wechseln, ist nicht erlaubt, nur jeweils zum Halbjahresende - die Schüler sollen lernen durchzuhalten, auch wenn ihnen die Aktivitäten nicht so taugen. Karl gefällt an den Gilden und überhaupt dem Internat, "dass man hier Dinge lernt, die man fürs Leben braucht".

Seit 2015 gibt es auf dem Gelände sogar einen Dorfladen. Drei Schüler haben die Geschäftsführung übernommen; sie verkaufen die Erzeugnisse der Gilden, darunter auch nach ökologischen Kriterien produzierte Lebensmittel, etwa Honig und selbstgebackenes Brot. Bestseller des Geschäfts, in dem jeder einkaufen kann, ist der Apfelsaft, gepresst aus Äpfeln, die auf Haubindas Streuobstwiesen wachsen.

Die Weite der Landschaft verströme eine "Gelassenheit, die sich auf die Kinder überträgt", erklärt Werner, dessen Schützlinge nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Russland, China und Brasilien kommen. In Haubinda leben jedoch nur 120 Kinder und Jugendliche, die anderen sind Tagesheimschüler und fahren am Nachmittag zurück ins Elternhaus. "Mir ist wichtig, dass die Dorfkinder hier zur Schule gehen können. Dieses Internat soll keine abgeschottete Einrichtung sein", stellt der Direktor klar. Zu den Werten, die er vermitteln will, gehört auch Geborgenheit: In Haubinda leben die jungen Menschen in sogenannten Internatsfamilien: Auf dem weitläufigen Areal stehen Fachwerkhäuschen, in denen die Schüler in Gruppen wohnen, wobei immer ein Lehrer oder ein Lehrerehepaar mit im Gebäude lebt. Jeden Donnerstag ist Familientag: "Wir treffen uns zum Spieleabend oder fahren gemeinsam ins Schwimmbad", erzählt Joneida. Am Wochenende geht es weiter weg, etwa in die Goethestadt Weimar. All die Angebote und die persönliche Betreuung, das hat seinen Preis. Eltern von Internatsschülern wenden für ihr Kind circa 30 000 Euro im Jahr auf. Für Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen steuert das Jugendamt mitunter einen Teil dazu bei. Für Tagesheimschüler fallen etwa 300 bis 400 Euro pro Monat an.

Fördern und fordern: Auch beim Apfelsaftpressen packen Schüler mit an.

Auch beim Apfelsaftpressen packen Schüler mit an.

(Foto: Haubinda)

Diplompädagogin Katharina Schlegel kam vor 24 Jahren über ein studentisches Projekt nach Haubinda - und blieb. Sie ist Mutter einer Internatsfamilie. Lehrer mit dieser Aufgabe sind Ansprechpartner für persönliche Fragen der jungen Menschen. Zusätzlich haben die Schüler Paten, bei denen sie sich aussprechen können. "Wir haben Strukturen geschaffen, die der Sicherheit dienen", erklärt Schlegel, "wir sind sehr sensibel für das Thema Missbrauch". Keiner solle hier den Eindruck haben, einer einzigen Person ausgeliefert zu sein.

Schlegel unterrichtet im Fach "Darstellen und Gestalten". Nach der Vorlage der Jugendbuchreihe "Die Wilden Hühner" von Cornelia Funke schreibt sie gerade gemeinsam mit Neuntklässlern ein Musical. Das Theaterprojekt steigere das Selbstbewusstsein der Kinder, weil sie alles selbermachten. "Wir denken uns auch das Bühnenbild aus. Außerdem näht eine Schneiderin gemeinsam mit den Kindern die Kostüme." Die Pädagogin bringt viel Energie in ihre Projekte ein, erwartet das aber auch von ihren Kindern. "Für Haubinda sollte man schon leistungsorientiert und engagiert sein", sagt sie. "Manche Schüler lehnen wir ab, weil sie nicht zu uns passen."

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