Flexibles Arbeiten ohne Ende:Warum es uns so schwer fällt, rechtzeitig Feierabend zu machen

Die schöne neue Arbeitswelt bietet tolle Möglichkeiten und Freiheiten - doch sie ist belastender denn je. Viele Arbeitnehmer trauen sich nicht mehr, ohne Überstunden nach Hause zu gehen. Die Psychologin Julitta Rössler erklärt, warum das Abschalten so schwer ist.

Verena Wolff

Die Arbeitsbelastung in deutschen Büros steigt zunehmend - und immer mehr Beschäftigte leiden darunter. Die IG Metall hat jüngst eine "Anti-Stress-Verordnung" gefordert, um Arbeitnehmer künftig vor dem Burn-out-Syndrom und anderen psychischen Erkrankungen zu schützen. Julitta Rössler ist Kauffrau und Psychologin in Meerbusch bei Düsseldorf. Sie konzentriert sich in ihrer Arbeit auf die Themen geistige Gesundheit und Leistungsfähigkeit, Stressbewältigung und Burn-out-Vorbeugung. Ihr aktuelles Buch heißt "Raus aus Hamsterrad und Tretmühle".

Süddeutsche.de: Smartphone, Laptop, Arbeiten an jedem beliebigen Ort. Eigentlich sollte man meinen, die Arbeitswelt von heute ist nahezu paradiesisch. Warum leiden so viele Menschen an Erschöpfungszuständen bis hin zum Burn-out?

Julitta Rössler: Die Arbeitswelt ist belastender geworden. Wir haben die Möglichkeit, von überall zu arbeiten - das bedeutet aber vielfach, dass auch erwartet wird, immer und überall zu arbeiten. Arbeit und Privatleben vermischen sich zunehmend. Das ist zunächst nicht schlimm, im Gegenteil: Es bietet Chancen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung. Gleichzeitig sind wir aber auch selbst verantwortlich dafür, unsere Leistungsgrenzen zu beachten und Feierabend zu machen. Das fällt vielen Menschen noch sehr schwer. Bei immer höherer Arbeitsdichte, steigendem Zeit- und Termindruck und mangelhafter Führungskompetenz vieler Vorgesetzter kommt es zu Arbeitsüberlastung und chronischem Stress. Psychische Erkrankungen aufgrund von Arbeitsüberlastung nehmen immer noch stetig zu. Burn-out ist zum gravierendsten Arbeitsunfall der Neuzeit geworden, wie es der renommierte Hirnforscher Gerald Hüther trefflich ausdrückt.

Süddeutsche.de: Wie kommt es zu den unendlichen Arbeitszeiten, die viele heute haben?

Rössler: Immer mehr Beschäftigte arbeiten 60 Stunden und mehr pro Woche. Viele Menschen arbeiten regelmäßig am Wochenende oder sind im Urlaub täglich für berufliche Belange erreichbar. Die klassische Nine-to-Five-Gesellschaft hat ausgedient. Wir erleben eine fragwürdige Form von Selbstbestimmung und Freiheit, in der anstatt flexibler letztlich nur erheblich mehr gearbeitet wird als früher. Dabei gehen wichtige Zeiten für Regeneration verloren. Körper und Geist brauchen aber genau diese Zeiten der Erholung, um verbrauchte Energie wieder auftanken zu können.

Süddeutsche.de: Warum machen wir denn nicht einfach Feierabend?

Rössler: Ein neuer Job ist meist herausfordernd und interessant, gerade am Beginn des Berufslebens. Wir arbeiten anfangs deshalb sehr engagiert, oft weit über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus. Weil die Arbeit Spaß macht, merken wir nicht, dass wir andere Lebensbereiche darüber vernachlässigen. Wir selbst und unser Umfeld gewöhnen uns daran. Es ist äußerst schwer, diese Verhaltensmuster wieder zu durchbrechen und zum Beispiel konsequent zu einer bestimmten Zeit nach Hause zu gehen und dann auch die Finger von der Arbeit zu lassen.

Süddeutsche.de: Welche neuen Probleme hat die Arbeitswelt noch erschaffen?

Rössler: Die Zahl der Fern- und Wochenendpendler sowie der Geschäftsreisenden steigt ständig. Für wen die Flughafen-Lounge zum Zuhause wird und wer die eigene Wohnung niemals bei Tageslicht sieht, dem fehlen Rückzugsräume, es ist dann kaum möglich, Momente des Wohlbefindens zu genießen und neue Energie aufzutanken. Auch bleibt keine Zeit für die so wichtige Pflege von Beziehungen, gerade zu den Menschen, die uns Kraft und Rückhalt geben können.

Süddeutsche.de: Wie belastet uns die dauernde Berieselung von allen Seiten?

Rössler: Die moderne mediale Welt bietet eine Flut von Reizen, Daten und Informationen, die alle um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren. Zu oft reagieren wir darauf, als ob es um einen Notfall ginge, der keinen Zeitaufschub verträgt. Anstatt einen längeren Text im Internet aufmerksam und konzentriert zu lesen, springen wir von einem Hyperlink zum nächsten und merken gar nicht, dass wir Wissenswertes nur noch oberflächlich scannen. Längere Zeit bei einer Sache zu bleiben, fällt uns immer schwerer. Immer mehr Berufstätige leiden unter ähnlichen Symptomen wie Menschen mit dem sogenannten ADHS-Krankheitsbild: innere Unruhe, Konzentrations- und Merkprobleme, Gereiztheit, das Gefühl immer noch etwas tun zu müssen und doch nie etwas zu Ende bringen können.

Nur Kuscheln geht nicht

Süddeutsche.de: Ist Stress an sich eine Gefahr?

Rössler: Nein. Stress gehört zum Leben dazu und kann durchaus positiv wirken. Kuschelatmosphäre im Büro, ganz ohne Belastungen, kann nicht funktionieren. Stress wird erst dann zur Gefahr, wenn die Belastung dauerhaft zu hoch ist.

Süddeutsche.de: Wie sehr stresst uns das Verhalten von Chefs und Kollegen?

Rössler: Nicht geschimpft ist genug gelobt: Das ist die Meinung vieler Chefs und Kollegen. Läuft dagegen etwas schief, wird mit negativer Kritik nicht gegeizt. Fehler, Misserfolge und Probleme stehen im Fokus, während Erfolge und Lösungen eher wenig Aufmerksamkeit finden. Dabei liegt genau hier ein großes Potential für Motivation und Leistungskraft. Unser Gehirn ist nämlich ein wahres Erfolgsorgan, das immer dann besonders gut arbeitet, wenn wir Wertschätzung und Anerkennung erfahren, es uns gutgeht und wir uns wohl fühlen. Genau dann stellen sich Erfolge ein, die uns beflügeln, denn Erfolg zieht Erfolg nach sich. Ein weiteres Problem ist für viele Arbeitnehmer die dauernde Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. In einer Arbeitswelt, die sich alleine an kurzfristigen monetären Zielen und Gewinnmaximierung orientiert, werden Mitarbeiter schnell zum kostenintensiven Störfaktor, den es zu minimieren gilt. Das macht aus Kollegen Konkurrenten um den Arbeitsplatz, der Nährboden für Mobbing. Kaum jemand traut sich, Fehler zu machen oder Schwächen zu zeigen. Natürliche Leistungsgrenzen werden dadurch viel zu oft ignoriert, um stattdessen noch einen Takt schneller im Hamsterrad laufen zu können.

Süddeutsche.de: Können alle Menschen gleich gut mit der andauernden Flexibilität umgehen?

Rössler: Nein. Viele Menschen leiden darunter sehr. Geradlinige Berufsbiographien unter verlässlichen und planbaren Arbeitsbedingungen gibt es immer weniger. Häufig wechselnde Projektteams anstatt fester Abteilungsstrukturen, immer neue Probleme und Fragestellungen, die nur durch immer neue Ideen gelöst werden können, häufige Jobwechsel intern ebenso wie extern - all das macht die moderne Arbeitswelt unkalkulierbar und unsicher.

Süddeutsche.de: Wer kann besser abschalten: Frauen oder Männer?

Rössler: Wir haben uns inzwischen von alten Rollenbildern getrennt - Frauen und Männer strampeln gleichermaßen in den diversen Hamsterrädern. Daher nivellieren sich Unterschiede mehr und mehr. Ich kann nicht feststellen, dass es einer Gruppe leichter fällt als der anderen, abzuschalten. Frauen sind allerdings häufig engagierter in der Pflege von sozialen Kontakten, auch dann noch, wenn sie beruflich stark überlastet sind. Das eröffnet ihnen eher Möglichkeiten der emotionalen Unterstützung in belastenden Situationen. Dagegen leiden sie immer noch häufiger als Männer unter Vielfachbelastungen, denn zusätzlich zu den beruflichen Stressfaktoren tragen sie meist die Hauptverantwortung für die Organisation und das Management des Familienalltags.

Süddeutsche.de: Wo muss die Erkenntnis anfangen, dass man in der Tretmühle ist - und wie kommt man dann heraus?

Rössler: Es gibt viele frühzeitige Warnsignale, die wir rechtzeitig beachten sollten. Dazu zählen Schlafstörungen, die länger als zwei Wochen dauern, Gereiztheit und innere Unruhe, Unkonzentriertheit und Merkprobleme, Vernachlässigung von Freundschaften und familiären Kontakten sowie die Tatsache, Dinge nicht mehr zu tun, die wir früher gerne getan haben. Wer diese Symptome an sich feststellt, muss etwas ändern. An erster Stelle steht, so banal es klingt, Beruhigung und Entspannung von Körper und Geist durch regelmäßigen, ausreichenden und guten Schlaf, Pausen zwischendurch, Entspannungstechniken und regelmäßige Bewegung im Ausdauerbereich. Genuss und Lebensfreude wiederzuentdecken und als festen Tagesordnungspunkten zu verankern, ist ein weiterer wichtiger Schritt. Das Gefühl dafür, was guttut, ist vielen Menschen, die überlastet sind, völlig abhandengekommen. Dafür ist es wichtig, die eigenen Bedürfnisse zu ergründen und sie ebenso wichtig zu nehmen wie die von Chefs und Kollegen. Und: Wir müssen allen Lebensbereichen gleichermaßen Bedeutung und Aufmerksamkeit schenken sowie aktiv und intensiv gute Beziehungen zu anderen Menschen pflegen.

Süddeutsche.de: Wie bringe ich Ruhe in meinen Arbeitsalltag?

Rössler: Jeder Arbeitnehmer braucht regelmäßige Zeiten für Regeneration im Arbeitsalltag. Dazu zählen kurze Pausen zwischendurch zum Wiederaufbau von Konzentration und Energie. Ein kurzer Powernap in der Leistungstiefzeit mittags wirkt Wunder, Bewegungseinheiten im Arbeitsalltag, wie etwa ein kleiner Pausenspaziergang oder ein Sprint durchs Treppenhaus, können aktivieren und neue Energie aufbauen. Wo immer möglich, gilt es, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren, denn die Fähigkeit zu Multitasking ist eine Illusion. Der Versuch kostet unnötig Zeit und bedingt eine höhere Fehlerrate.

Süddeutsche.de: Wie beschließe ich den Arbeitstag am besten?

Rössler: Am wichtigsten ist, die Arbeit regelmäßig zu einer bestimmten Zeit zu beenden, ohne Wenn und Aber. Menschen, die das konsequent machen, werden zwar vielleicht zunächst merkwürdig angeschaut - aber meist dauert es nicht lange, bis es erste Nachahmer gibt. Wichtig ist, sich dann arbeitsfremden Themen und Aktivitäten zuzuwenden, die Spaß und Freude machen, zusammen mit anderen Menschen etwas Schönes zu unternehmen oder auch einfach mal ganz ohne Ziel und Zweck den eigenen Gedanken nachzuhängen.

Wie sind Ihre Erfahrungen? schaffen Sie es, pünktlich das Büro zu verlassen?

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