Finnland:Das Paradies im Norden

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Mehr Lehrer, kein Notendruck, kein Sitzenbleiben: Warum Finnlands Schulen Weltspitze sind - und was Bayern daraus lernen kann.

Birgit Taffertshofer und Gunnar Herrmann

Für Bayerns Schulpolitiker ist Finnland das, was für Touristen die Südsee ist: ein Traumziel, zum Schwärmen schön. Paradiesisch. Im Pisa-Siegerland, heißt es, gebe es gerechte Bildung für alle und viele gute Schüler. Auch die Lehrer seien dort sehr geachtet. Politiker und Experten pilgern seit Jahren in Scharen in den Norden, um dem finnischen Geheimnis auf die Spur zu kommen.

Rainer Domisch, ein Schwabe, der heute für die oberste finnische Schulbehörde Lehrpläne entwickelt, kennt sie fast alle. Seitdem Finnland völlig überraschend Pisa-Sieger wurde, hat er unzähligen Delegationen aus China und Europa die dortige Schule erklärt. Auch Edmund Stoiber war schon bei ihm, Kultusminister Schneider sowieso.

Jetzt sitzt Domisch in seinem Büro in Helsinki und lobt die Vorteile des finnischen Systems: Dort erhalten alle Kinder von der ersten bis zur neunten Klasse gemeinsamen Unterricht. Jedem Schüler soll möglichst viel beigebracht werden, damit er sich mit 15 Jahren selbst für einen Bildungsweg entscheiden kann. Statt die Kinder wie in Bayern in Gymnasiasten, Realschüler, Haupt- und Förderschüler einzuteilen, schauen finnische Lehrer viel mehr auf das einzelne Kind.

Hauptvorteil für Domisch: Es gebe keine "falschen" Schüler in der "richtigen" Schule. Wer Probleme hat, könne nicht einfach in eine andere Schule entsorgt werden. Pädagogen verstehen sich in Finnland als Entwicklungshelfer und nicht als Allwissende, die Kinder in feste Kategorien pressen.

Annika Takala weiß, wie anstrengend es ist, diesem Anspruch zu genügen. Sie ist Grundschullehrerin in Tammela, einem Vorort von Finnlands zweitgrößter Stadt Tampere. Schwierige oder eigensinnige Schüler versuche sie aufzubauen, erzählt sie. Dann gebe sie ihnen Sonderunterricht, bis der Anschluss wiederhergestellt ist. Um jeden ihrer Schüler zu fördern und gleichzeitig auch zu fordern, müsse sie in ihrer Klasse oft vier verschiedene Hausaufgaben stellen.

Im Schnitt haben finnische Klassen 25 Schüler, allerdings kann sich ein Lehrer immer einen Schulhelfer dazuholen. Für besonders schwere Fälle gibt es Unterricht in Kleingruppen oder Einzelförderung, etwa durch Psychologen. Verhältnisse, von denen Lehrer in Bayern nur träumen können. Hier müssen sie mit bis zu 37 Schülern alleine fertig werden - und von homogenen Lerngruppen kann trotz des gegliederten Schulsystems natürlich keine Rede sein.

Psst

2700 Kilometer von Tammela entfernt, in einer Realschule in Unterfranken, hält eine Lehrerin Matheunterricht in der 7c. Sie erklärt das Prozentrechnen anhand eines anschaulichen Beispiels, das sie bewusst aus dem Leben der Schüler greift.

32 Jugendliche auf Schulbänken folgen ihr mäßig interessiert, ein paar machen mit, in den hinteren Reihen tuscheln manche. "Psst", sagt die Lehrerin zweimal, dann fragt sie etwas bestimmter "Könnt ihr jetzt bitte eure Privatunterhaltung lassen?" Sie erzählt davon, in welchen Situationen das Prozentrechnen nützlich sei. Einsam entwickelt sie dann an der Tafel die Formeln und ruft die Schüler immer wieder zum Mitmachen auf.

Die Lehrerin spürt genau, dass sie während des 45-Minuten-Unterrichts Kinder verliert, weil sie den Unterschied zwischen Prozentsatz und Prozentwert noch nicht sicher parat haben. "Nochmal erklären?", fragt sie sich. Dann langweilen sich die anderen und die Klasse gerät mit dem Stoff ins Stocken. Die Kinder nach der Stunde zur Seite nehmen? Dann entfällt für sie die wichtige Pause. Sie wird die Eltern wohl darauf hinweisen müssen, sagt sie, dass die Kinder daheim mehr Hilfe brauchen. Sonst drohen schlechte Noten und Sitzenbleiben.

Notendruck und Sitzenbleiben gibt es in Finnland nicht, genauso wenig wie privat bezahlten Nachhilfeunterricht oder Büchergeld. Sogar das Mittagessen, Hefte und Stifte zahlt der Staat. All dies stärke die Vertrauensbasis zwischen Eltern und Schule, meint Domisch. Bei einem Besuch in der Schule in Tammela fällt zunächst wenig auf. Die Woche beginnt für die Schüler jeden Montag um acht Uhr. Auf jede Unterrichtsstunde folgen 15 Minuten Pause. "Meistens gehen wir auf den Spielplatz", erzählt Johanna, eine Schülerin von Annika Takala. Und dann räumt die Viertklässlerin mit dem wohl populärsten Irrtum über Finnlands Schule auf: Nein, es gibt dort keine Ganztagsschulen, auch wenn Johanna täglich in der Schule zu Mittag isst. Um spätestens 14 Uhr gehe sie nach Hause und macht meist eine halbe Stunde Hausaufgaben, erzählt Johanna.

Wie in Bayern wünschen sich aber inzwischen viele Eltern in Finnland längeren Unterricht oder Nachmittagsbetreuung auch für die älteren Schüler. Denn in den meisten finnischen Familien arbeiten beide Elternteile, erzählt Johannas Mutter Virve Manninen. Doch als sie vor der Entscheidung stand, in Deutschland zu bleiben oder in ihre Heimat zurückzukehren, da waren die besseren Bildungschancen für ihre Tochter ein wichtiges Argument für Finnland. "Es gibt hier keinen so starken Wettbewerb unter den Schülern", sagt sie. Außerdem würde in Tammela niemand von den Eltern erwarten, dass sie ehrenamtlich die Schulhöfe umgraben oder stundenlang mit den Kindern üben und wiederholen.

Die Helfer in Johannas Schule sind Lehramtsanwärter, die ihre Chancen auf einen der begehrten Studienplätze verbessern wollen. Grundschullehrer ist der beliebteste Beruf Finnlands, das Auswahlverfahren ist berüchtigt. Während das Kultusministerium in München jedes Jahr händeringend nach Lehrern sucht, bewerben sich im hohen Norden zehn Prozent aller Schulabgänger für ein Lehramtsstudium. In Helsinki sind es 1000 Kandidaten auf 100 Plätze, dabei verdienen die Lehrer vergleichsweise wenig. Die Aufnahmeprüfung zielt vor allem auf die Pädagogik. Bewerber müssen Einzelgespräche und Gruppeninterviews bestehen.

In Finnland wird niemand Lehrer, weil ihm nichts Besseres eingefallen ist oder weil sich sein Traumjob als Historiker, Germanist oder Künstler nicht verwirklichen ließ.

Die Kritik vieler CSU-Politiker, dass die finnische Gesamtschule begabte Schüler unterfordere und nur durch die geringe Ausländerquote gelinge, lässt Domisch deshalb nicht gelten. Wenn ein pädagogisch gut ausgebildeter Lehrer an alle Schüler hohe Anforderungen stelle, dann gebe es insgesamt bessere Ergebnisse, als wenn man die zehnjährigen Schüler in Leistungsgruppen sortiere. In Finnland schafften immerhin 55 bis 60 Prozent eines Jahrgangs das Abitur. In Bayern sind es nur etwa halb so viele.

Auch die CSU-Regierung hat das Problem inzwischen erkannt. Sie will die Abiturientenquoten auf 40 Prozent steigern. Hauptschüler sollen zudem über den zweiten Bildungsweg Chancen auf ein Abitur bekommen, indem sie ähnlich wie in Finnland stärker individuell gefördert werden. Schließlich ist ein hoher Bildungsgrad der Bevölkerung die beste Garantie für künftigen Wohlstand und wenig Arbeitslosigkeit. Doch bislang folgen Bayerns Politiker, wenn es um das Vorbild Finnland geht, eher der Rosinen-Theorie: Jeder pickt sich heraus, was ihm schmeckt, und wischt den großen Rest beiseite.

Neue Lernkultur

Von einer neuen Lernkultur, die Domisch für notwendig hält, ist Bayern noch weit entfernt. Die vielen Träger und Verantwortlichen, die alle eigene Interessen verteidigen, blockieren Reformen. Obwohl die Staatsregierung für Bildungsföderalismus eintritt, regiert sie die Schulen zentralistisch. Von München aus werden 5000 öffentliche Schulen verwaltet. Der Apparat mit 400 Ministeriumsmitarbeitern, 80 Beamten in den Bezirksregierungen und 300 Schulräten verschlingt Unmengen Geld.

Das erklärt, warum Finnland laut OECD-Vergleich kaum mehr für die Schule ausgibt als andere Länder. "Es kommt darauf an, das Geld gezielt einzusetzen", sagt Domisch. In Bayern kosteten die Gymnasiasten am meisten, in Finnland dagegen seien die jüngsten Schüler die teuersten. Praktisch wird das finnische System freilich nur schwer auf Bayern übertragbar sein. Dafür ist das gesamte deutsche Schulsystem zu sperrig konstruiert. Geduld sei bei Bildungsreformen immer nötig, sagt Domisch daher: Für Korrekturen des Systems brauche man vielleicht nur fünf Jahre, aber für eine neue Lernkultur sicher bis zu 15 Jahre.

© SZ vom 16.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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