Fernuniversität Hagen:Studieren ohne Anwesenheitspflicht

80 Professoren, 63.000 eingeschriebene Studenten, 50 Tonnen Post: Die Fernuniversität Hagen ist die größte Hochschule in Deutschland - doch kaum ein Student sieht sie jemals von innen. Ein Einblick.

Kim-Björn Becker

Das Wissen wird auf Paletten angeliefert. Es erreicht das Logistikzentrum der Hochschule regelmäßig über eine der vier Laderampen. Wenige Stunden später ist es meist schon in handliche Briefsendungen aufgeteilt und auf dem Weg zu den Studenten. Manche von ihnen wohnen nur wenige Kilometer von ihrer Hochschule entfernt, andere mehrere tausend. Die meisten aber liegen irgendwo dazwischen. Sie alle studieren, ohne ihre Universität regelmäßig zu besuchen. Und viele kommen nie dorthin.

Fernuni Hagen

Studenten von Bolivien bis Iran - und natürlich quer über Deutschland verteilt: Die Fernuniversität Hagen wurde 1974 vom Land Nordrhein-Westfalen gegründet. Sie ist die größte Hochschule Deutschlands, fast 63.000 Studenten sind eingeschrieben.

(Foto: ddp)

Die Fernuniversität in Hagen ist die größte Hochschule Deutschlands, fast 63.000 Studenten sind derzeit dort eingeschrieben. Das sind etwa 20.000 mehr als an den größten Präsenzuniversitäten München und Köln. Was dort klassisch in Vorlesungen und Seminaren vermittelt wird, müssen sich die Fernstudenten selbst aneignen.

"Ein paar Wochen vor Semesterbeginn verschicken wir die meisten Studienbriefe", sagt Petra Hohmann, die Leiterin der Versandabteilung. Diese liegt ein paar Kilometer vom eigentlichen Campus entfernt, in einem Hagener Industriegebiet. Hohmann ist dafür verantwortlich, dass alle Studenten weltweit ihre Lernunterlagen pünktlich zu Semesterbeginn erhalten.

Auf einer Weltkarte haben die Mitarbeiter mit Fähnchen deshalb alle Länder markiert, in denen Studenten leben. In den USA etwa sind es 125, in China 38, in Iran fünf, in Bolivien einer. Oft helfen deutsche Botschaften, dass die Sendungen ihre Adressaten auch wirklich erreichen.

An manchen Tagen verlassen bis zu 50 Tonnen Papier das Zentrum, denn viele Studienbriefe haben einen Umfang von Hunderten Seiten. Die Professoren schreiben einen Teil der Studienbriefe selber, aber auch bedeutende Texte von externen Wissenschaftlern werden darin nachgedruckt. Die Produktion der Unterlagen hat die Hochschule ausgelagert, sie arbeitet mit etwa 30 Druckereien aus dem Umland zusammen. In der Hausdruckerei, ebenfalls im Logistikzentrum untergebracht, werden nur kleinere Auflagen produziert - Klausurenbögen zum Beispiel oder die Abschlussurkunden.

Weiterbildung mal anders

Die Studenten müssen die Studienbriefe während des Semesters lesen und den Stoff dann weitgehend selbständig lernen. Das erfordert Disziplin: "Ich mache mir einen genauen Semesterplan, wann ich was lese. Sonst wird es mit dem Beruf zu stressig", sagt Fernstudent Kevin Guse aus Siegen. Er arbeitet in Vollzeit als Verwaltungsmitarbeiter, für sein Bachelor-Studium der Politik- und Verwaltungswissenschaft büffelt er abends und am Wochenende. "Nach dem Abitur wollte ich arbeiten und nicht gleich wieder nur lernen", sagt er. Doch irgendwann kam doch der Wunsch, die Ausbildung fortzusetzen. "Für mich war aber klar, dass ich im Beruf bleibe. Ein Präsenzstudium an einer normalen Universität kam deshalb nicht in Frage."

Fernuniversität Hagen: Unterlagen aus dem Versandzentrum: An der Fernuni Hagen läuft vieles anders als an Präsenzhochschulen.

Unterlagen aus dem Versandzentrum: An der Fernuni Hagen läuft vieles anders als an Präsenzhochschulen.

So wie Guse geht es vielen Fernstudenten: Nach Angaben der Hochschule sind etwa 80 Prozent von ihnen berufstätig, 38 Prozent haben darüber hinaus bereits ein abgeschlossenes Studium. Das Fernstudium nutzen sie meist als Weiterbildung - für einen Master-Abschluss oder um sich etwa für Führungsaufgaben betriebswirtschaftliches Wissen anzueignen.

Seit 2008 ist Guse Fernstudent - und bisher, sagt er, läuft alles bestens. Das ist nicht immer so: Jeder zweite Fernstudent bricht sein Studium allein im ersten Jahr ab. An Präsenzunis gibt dagegen über das gesamte Studium verteilt nur etwa jeder Fünfte auf, belegen Studien.

"Viele unterschätzen die Anforderungen des Studiums", sagt Helmut Hoyer, der Rektor der Fernuniversität. Er hat sein Büro im ältesten Gebäude der Hochschule, einer früheren Villa einer Hagener Unternehmerfamilie. Sie liegt am Rand des Fernuni-Campus, der mittlerweile acht Gebäude umfasst. Zwei weitere werden gerade neu gebaut, denn die Universität wächst und wächst: Zum vergangenen Wintersemester nahmen 6000 neue Studenten ihr Fernstudium auf. Nur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München schrieben sich noch mehr Neulinge ein.

"Der Trend zum Fernstudium entspricht den neuen Anforderungen der Berufswelt. Dort ist viel Flexibilität gefragt", sagt Yorck Hener, Geschäftsführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE). Auch Hoyer sieht seine Uni nicht in Konkurrenz zu den Präsenzuniversitäten: "Das Fernstudium ist eine Ergänzung. Für viele Menschen ist ein Vollzeitstudium neben Beruf und Familie einfach nicht möglich."

Hagen ist die einzige staatliche Fernhochschule in Deutschland. Mittlerweile haben 80 Professoren hier ihre Büros, dazu kommen viele wissenschaftliche Mitarbeiter und technisches Personal. Mit 1400 Mitarbeitern ist die Hochschule der zweitgrößte Arbeitgeber im Ort, nur die Stadtverwaltung hat noch mehr Angestellte. An den vier Fakultäten kann man sich für Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften, Mathematik und Informatik sowie Jura einschreiben. Diese Fächer sind im Fernstudium machbar, weil sie vor allem aus Lektüre bestehen. "Aufwendiger wäre es beispielsweise, technische Studiengänge mit vielen Praxiselementen auszuarbeiten", sagt Hoyer.

Wer zahlt?

Aufwendig, das heißt auch: teuer. Der Etat der Uni betrug im vergangenen Jahr knapp 80 Millionen Euro, davon stammte etwa ein Drittel aus den Gebühren der Studenten. Diese liegen je nach Kursbelegung zwischen 160 und 360 Euro pro Semester. Den Rest des Haushalts finanziert das Land Nordrhein-Westfalen. Die Uni wünscht sich aber eine finanzielle Unterstützung aus Berlin: "Wir nehmen unseren Bildungsauftrag bundesweit wahr, nur jeder dritte Student kommt aus NRW. Wir sehen uns daher in erster Reihe für eine partielle Bundesfinanzierung", betont Rektor Hoyer.

Finanzielle Hilfe von anderen Bundesländern

Aktuell gebe es Gespräche mit dem Bundesbildungsministerium. Jedoch dementierte Ministerin Annette Schavan (CDU) im Februar Berichte über eine Beteiligung des Bundes an der Fernuni. In der Diskussion über "Bundesuniversitäten" war Hagen genannt worden. Auch kann sich Hoyer finanzielle Hilfe durch die anderen Bundesländer vorstellen, in denen man teils auch Regionalzentren unterhält. Diese dienen als Anlaufstellen für die Fernstudenten, mitunter werden dort Präsenzseminare gehalten oder Klausuren unter Aufsicht geschrieben.

Seine Abschlussprüfungen hat Politikstudent Felix Neumann aus Freiburg noch vor sich. "Einen Austausch mit Dozenten und Mitstudenten gibt es fast nur über das Internet", sagt er. "Die soziale Sphäre des Studiums vermisst man schon ein wenig." Denn was im regulären Studium der Plausch nach dem Seminar oder die Diskussionen in der Cafeteria sind, findet in Hagen über eine Lernplattform statt. "Moodle" heißt das System, zu dem jeder Student Zugang hat. Manche Professoren zeichnen ihre Vorlesungen auch auf Video auf, die Studenten können sie dann herunterladen.

Die Dozenten haben freie Hand, mit welchen Techniken sie arbeiten. "Viele, die von anderen Hochschulen nach Hagen kommen, müssen den Umgang mit virtuellen Lehrmethoden erst lernen", sagt die Informatikerin Brigitte Kreplin, sie ist in Hagen Kontaktperson für die Lehrenden bei technischen Fragen.

Unbekannte Technik

So ging es zum Beispiel Annette Töller: Die Politikwissenschaftlerin wechselte 2009 von der Bundeswehr-Uni in Hamburg nach Hagen. "Früher kamen Studenten zu mir in die Sprechstunde, hier läuft fast alles per E-Mail", sagt sie. Bei wichtigen Fragen, etwa wenn es um das Thema einer Abschlussarbeit geht, seien aber Telefonate unverzichtbar. Auch die mündlichen Prüfungen, die meist per Videokonferenz übertragen werden, waren für Töller zunächst ungewohnt. In einem anderen Fall musste die Abschlussprüfung dagegen in einer Gefängniszelle stattfinden - denn auch einige verurteilte Straftäter studieren an der Fernuniversität.

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