Erziehung:"Viele Kinder kennen nur Sättigung"

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Eltern, die alles für ihren Nachwuchs tun, behindern letztlich dessen Entwicklung und das Erwachsenwerden.

Interview von Christiane Bertelsmann

Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut Michael Winterhoff bemängelt, dass viele Eltern eine sehr enge Beziehung zu ihren Kindern eingehen. Was das für das Selbständigwerden heißt, erklärt der Bonner Facharzt, der zahlreiche Bücher veröffentlich hat, im Folgenden.

SZ: In Ihren Publikationen stellen Sie die These auf, dass Eltern ihre Kinder unbewusst zur Unselbständigkeit und letztendlich zur Unmündigkeit erziehen. Was läuft da falsch?

Michael Winterhoff: Auf der Beziehungsebene hat sich so einiges verschoben. Wir leben in einer verunsichernden Welt, die Digitalisierung trägt einen großen Teil dazu bei. Viele Erwachsene befinden sich in einer ständigen Überforderung. Ihnen fehlt außerdem eine positive Lebensperspektive. Dieses Manko kompensieren sie auf folgende Art: Wenn sie schon selbst nicht glücklich sind, soll es wenigstens das Kind gut haben. So kommt es zur Symbiose, zur Verschmelzung: Sie fühlen für ihr Kind, sie denken für ihr Kind, sie gehen für ihr Kind in die Schule.

Und später wollen diese Eltern ihren Kindern dann die Entscheidung abnehmen, welchen beruflichen Weg sie nach dem Abitur einschlagen ?

Das ist ja keine bewusste Entscheidung der Eltern, sie machen das bestimmt nicht, weil sie ihre Kinder in der Entwicklung hemmen oder ihnen schaden wollen. Und dennoch tun sie genau das: Sie verhindern, dass ihre Söhne oder Töchter selbständig werden. Wir haben heute eine ganze Menge junge Erwachsene, die entscheidende Schritte in der Entwicklung einfach noch nicht vollzogen haben. Dazu gehört zum Beispiel, Verantwortung zu übernehmen.

Können Sie diese Entwicklungsdefizite genauer beschreiben?

Es gibt Jugendliche, die allem, was in Richtung Anstrengung und Fremdbestimmung geht, ausweichen. Ausbildungsbetriebe schildern mir immer wieder, dass ihre Bewerber zu spät oder überhaupt nicht zu Vorstellungsgesprächen erscheinen - weil es Mühe macht, sich gut vorzubereiten, sich mit dem Betrieb zu beschäftigen, pünktlich zu sein. Entwicklungspsychologisch entspricht ein solches Verhalten dem Stand von kleinen Kindern. Diese jungen Menschen sind unbewusst immer noch der Meinung, dass sie jeden steuern und bestimmen können. Sie leben rein lustorientiert. Bei kleinen Kindern ist das altersgemäß, nicht aber bei jungen Erwachsenen.

Wie und wann sollte denn das Selbständigwerden idealerweise stattfinden?

Im Alter von 15 oder 16 Jahren beginnen Jugendliche normalerweise, sich stärker nach außen zu orientieren. Wohin will ich? Was will ich erreichen? Wie will ich leben? Damit geht ein Loslösungsprozess einher. Dazu gehört es, auch mal eine andere Meinung zu haben als seine Eltern. So etwas beobachte ich allerdings in meiner Praxis immer seltener. Diese Entwicklung findet kaum noch statt.

Spielt es eine Rolle, dass Abiturienten durch G 8 bedingt jünger sind, wenn sie Abitur machen?

Das ist nicht die Ursache der Problematik, verstärkt sie aber. Die Ursachen für die Nicht-Entwicklung finden sich in einer früheren Phase, schon im Kleinkindesalter, wenn Kindern alles abgenommen wird, was sie vor Schwierigkeiten stellen könnte. Im übertragenen Sinn bedeutet das: Viele kennen nur Sättigung, sie verspüren nicht einmal Appetit.

Sehen Sie Lösungsansätze?

Wenn Eltern erkennen, dass sie überbehütend sind, dann ist das schon mal ein erster Schritt. Sie sollten dann mit ihren Söhnen oder Töchtern besprechen, wie es weitergehen kann nach der Schule. In jedem Fall sollte das in Richtung Arbeitsprozess gehen - oder in Richtung Studium und dann auch bald Richtung ausziehen aus dem Hotel Mama. Gar nichts machen kann nicht die Realität sein. Eltern wollen ihre Kinder ja ins Leben bringen und dort ankommen lassen.

Wie genau könnte dieser Ablösungsprozess nach dem Abitur aussehen?

Eine Entwicklung der Psyche geht nur über Erleben, über die Konfrontation mit Problemen. In meiner Praxis habe ich sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dass Heranwachsende nach der Schule ein Jahr lang arbeiten, idealerweise eingebunden in ein Projekt im Ausland. Danach machen sie unglaubliche Entwicklungssprünge, sie sind klar in ihren Vorstellungen, wie es weitergehen soll. Sie nehmen ihr Leben in die Hand - auch wenn der Weg, den sie dann einschlagen, vielleicht auf den ersten Blick ein Umweg ist.

© SZ vom 16.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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