Erfahrungen im Schulsystem:"Schulbildung in Deutschland ist ein Glücksspiel"

Willkürliche Noten, ungerechte Lehrer, Hass unter Schülern: Inge Faltin hat ihre Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem gemacht - als Mutter und als Lehrerin. Zusammen mit ihrem Sohn Daniel rechnet sie ab.

Maria Holzmüller

Inge Faltin erlebte, wie ihr Sohn Daniel während seiner Schulzeit unter Lehrern und Mitschülern litt - und entschloss kurzerhand, sich den Schulbetrieb von innen anzusehen. Sie machte ihr Referendariat und war zehn Jahre lang als Lehrerin an verschiedenen Schulen tätig. Ihre Erfahrungen hat sie gemeinsam mit ihrem Sohn in dem Buch "Schule versagt - Warum Bildung ein Glücksspiel ist und wie sich das ändern kann" aufgeschrieben.

Einschulung

Wie die Schullaufbahn eines Kindes verläuft, hängt vor allem vom Lehrer ab - sagen Inge und Daniel Faltin.

(Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Frau Faltin, was hat Sie und Ihren Sohn dazu bewogen, eine Abrechnung mit dem deutschen Schulsystem zu schreiben?

Inge Faltin: Als Mutter haben mich die Ungerechtigkeit, die Willkür und die mangelnde individuelle Förderung, die mein Sohn jeden Tag in der Schule erlebt hat, sehr betroffen und ärgerlich gemacht. Anderen Eltern erging es ähnlich. Ich habe dann relativ spät noch ein Referendariat begonnen, weil ich wissen wollte, wie der Schulbetrieb von innen funktioniert. Meine Erlebnisse wollte ich von Anfang an als Buch aufschreiben.

sueddeutsche.de: Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Bildung in Deutschland ein Glücksspiel ist. Warum?

Inge Faltin: Schüler in Deutschland sind vollkommen von ihren Lehrern abhängig. Je nachdem, ob sie mehr engagierte oder frustrierte Lehrer bekommen, entwickelt sich ihre Schullaufbahn anders. Auch persönliche Sympathien oder Antipathien spielen da eine Rolle. Ob ein Schüler in ein Gymnasium oder in die Realschule gehen darf, entscheidet oft ein Lehrer - das kann ein ganzes Leben prägen.

Daniel Faltin: Ich hatte zahlreiche Lehrer, die mit zweierlei Maß gemessen haben. Mein bester Freund in der Schule war ein Mathe-As. Ich war eher so der Dreier-Typ. Einmal ließ er mich abschreiben und wir hatten exakt identische Klassenarbeiten - er bekam eine Eins, ich eine Drei - das Weltbild musste stimmig sein. Ein anderes prägendes Erlebnis hatte ich in der Grundschule: Ich hatte gerade angefangen, Gitarre zu lernen. Aber meine Musiklehrerin, die ihre Lehrerausbildung vor 30 Jahren abgeschlossen hatte, wollte unbedingt, dass wir im Klassensatz Blockflöte spielen lernen. Meine ablehnende Haltung dem Instrument gegenüber hat sie prompt als persönliche Beleidigung empfunden.

sueddeutsche.de: Was läuft falsch zwischen Lehrern und Schülern?

Inge Faltin: Viele Lehrer machen sich bei ihrer Berufswahl gar nicht bewusst, um was es eigentlich geht. Im Unterricht sind sie dann häufig überfordert und kommunizieren nicht richtig mit den Schülern. So entsteht eine völlig falsche Lehrer-Schüler-Beziehung.

Daniel Faltin: Lehrer, so meine Erfahrung, interessieren sich wenig bis gar nicht, was im Leben ihrer Schüler passiert - auch dann nicht, wenn es sich direkt unter ihrer Aufsicht in ihrem Klassenzimmer abspielt. Ich habe während meiner Schulzeit massives Mobbing unter den Schülern erlebt. Kein Lehrer ist je eingeschritten. Sie haben es alle ignoriert.

sueddeutsche.de: Frau Faltin, Sie wurden selbst Lehrerin. Wie gehen Lehrer mit Mobbing unter Schülern um?

Inge Faltin: Viele nehmen es gar nicht wahr, andere versuchen, es zu ignorieren, weil es sie überfordert. Es erfordert eine aufmerksame Beobachtungsgabe von Seiten der Lehrer, Mobbing unter den Schülern wahrzunehmen und den Mut und die Tatkraft, die Lösung des Problems anzugehen. Viele Lehrer sind nach meiner Erfahrung zudem selbst von Mobbing betroffen, das soziale Klima im Kollegium war an einigen der Schulen, an denen ich war, nicht gut.

"Lehrer sollten sich nicht immer selbst in der Opferrolle sehen"

sueddeutsche.de: Was sollten Lehrer Ihrer Meinung nach für ein besseres Bildungssystem tun?

Inge Faltin

Inge Faltin holte ihr Referendariat nach, weil sie den Schulbetrieb von innen kennenlernen wollte.

(Foto: privat)

Inge Faltin: Zuerst einmal sollten sie sich Gedanken darüber machen, ob sie wirklich für diesen Beruf geeignet sind. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die eigene Persönlichkeit ständig weiterzuentwickeln, insbesondere auch die Fähigkeit zur Empathie. Individuell auf die Schüler einzugehen, ist unerlässlich. Dann müssen sie lösungsorientiert an Probleme herangehen und sich nicht ständig selbst in der Opferrolle sehen. Dafür müssen sie lernen, mit Niederlagen umzugehen. Nicht an jeden Schüler werden sie herankommen - trotzdem müssen sie den Antrieb haben, engagiert weiterzuarbeiten. Ziel ist, ein echtes Vorbild zu sein in Kompetenz - und im Charakter. Und das heißt auch, erst einmal selbst vertrauenswürdig und verlässlich zu sein. Es geht um viel mehr als die bloße Wissensvermittlung.

sueddeutsche.de: Sollte das den meisten Lehrern nicht bekannt sein?

Inge Faltin: Das Problem ist, dass sich häufig einfach die falschen Bewerber für ein Lehramtsstudium einschreiben. Das sind oft sicherheitsorientierte Menschen, die vor allem der Beamtenstatus lockt. Die Ausbildung selbst trägt auch nicht dazu bei, dass Absolventen wirklich auf den Alltag mit Schülern vorbereitet sind.

sueddeutsche.de: Was läuft in der Ausbildung falsch?

Inge Faltin: Die meisten Lehrer kommen von der Schule an die Uni und von dort direkt wieder zurück in die Schule, wo sie ihr Referendariat machen. Sie kennen nichts anderes. Viele haben dann zwar fundiertes Fachwissen, sind aber pädagogisch nicht gut genug ausgebildet. Um den Kindern wirklich ein Vorbild sein zu können, wäre es sinnvoll, erst einmal Lebenserfahrung zu sammeln.

Lehrer können auch Freunde sein

sueddeutsche.de: Waren Sie selbst als Lehrerin anders als Ihre Kollegen?

Inge Faltin: Nach den ersten Erfahrungen - die übrigens immer auch Aha-Erlebnisse für meinen Sohn waren - war es mein Anliegen, innovative Lehrmethoden anzuwenden. In einem Modellversuch versuchten wir, die Schüler in eigenverantwortlichem Arbeiten zu trainieren. Mein Konzept, das Unternehmensprinzip der Servant Leadership, also das dienende Führen, dass das Wohl der Mitmenschen in den Vordergrund stellt, in der Schule anzuwenden, als Definition der Lehrerrolle und als Basis der Lehrer-Schüler-Beziehung, kam später hinzu. Viele Lehrer erwarten aber einfach nur, dass die Schüler Wissen rezipieren und reproduzieren.

sueddeutsche.de: Wie viel Spielraum haben Lehrer an deutschen Schulen, um innovativen Unterricht zu gestalten?

Inge Faltin: Das hängt viel davon ab, wie innovationsfreudig ein Schulleiter oder das gesamte Lehrerkollegium ist. Aber man kann immer etwas machen, Projekttage einführen, Praxisphasen, andere Unterrichtsstrukturen - auch wenn der Lehrplan noch so streng ist. Es erfordert von jedem Lehrer allerdings hohes Engagement. Und Lehrer müssen selbst kreativ werden.

sueddeutsche.de: Wie müssten sich die Schulstrukturen verändern, damit besserer Unterricht möglich ist?

Inge Faltin: Schule muss zu einer Organisation des Vertrauens werden. Es gibt bereits innovative Beispiele, die zeigen, wie es funktionieren kann. Eine evangelische Schule in Berlin bietet beispielsweise keinen Unterricht in Klassen mehr an, sondern die Kinder lernen individuell in sogenannten Lernwerkstätten und Lernbüros; jeder in seinem eigenen Tempo. Und damit die Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern besser funktioniert, werden die Lehrer gecoacht - von Schülern.

sueddeutsche.de: Lernen angehende Lehrer solche innovativen Ansätze im Referendariat?

Inge Faltin: Überhaupt nicht. Im Referendariat muss man vor allem das tun, was die Seminarleiter von einem erwarten. Ich persönlich hatte zwei sehr unterschiedliche Seminarleiter. Einer war sehr konservativ, der andere förderte bestimmte neue Unterrichtsmethoden. Wer gute Noten wollte, musste seinen Unterricht deshalb einmal nach alten Mustern gestalten und gab sich beim nächsten Mal wieder aufgeschlossen für moderne Methoden. Wie gut man im Referendariat bewertet wird, hängt von der Seminarleitung ab, nicht von der eigenen Innovationsfreude oder Persönlichkeit.

sueddeutsche.de: Wie Sie es beschreiben, geht es Schülern ja ähnlich: Ihre Noten hängen vor allem vom Lehrer ab, weniger von der tatsächlichen Leistung. Wie lässt sich der Prozess der Notengebung verbessern?

Inge Faltin: Er muss vor allem transparenter werden. Zum Beispiel müssten alle Lehrer den Erwartungshorizont detailliert an der Tafel deutlich machen, bevor eine benotete Arbeit zurückgegeben wird. So weiß jeder Schüler, worauf seine Note basiert - und was der Lehrer von einem erwartet.

sueddeutsche.de: Herr Faltin, wie hätten Sie sich Ihre Lehrer gewünscht?

Daniel Faltin: Als ich als Austauschschüler in die USA ging, war ich überrascht, dass Lehrer dort eher als Freunde angesehen werden. Sie interessierten sich dafür, wie es mir ging und was ich am Vortag so gemacht hätte. Es war ihnen auch egal, ob ich das Fach, das sie unterrichteten, mochte oder nicht. Die Notengebung war wesentlich objektiver und losgelöst von den persönlichen Gefühlen der Lehrer den Schülern gegenüber. Es war eine sehr produktive Zeit. In Deutschland hatte ich oft das Gefühl, wenn Lehrer mitbekamen, dass ich ihr Fach nicht mochte, werteten sie das sofort als Angriff gegen ihre eigene Person und benoteten entsprechend. Dabei sollten sie doch eigentlich eine Mentoren-Rolle einnehmen.

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