"Equal-Programm":Krank im Elite-Arbeitsmarkt

Depression, Diabetes, HIV: Chronisch Kranke werden zur Normalität in der Arbeitswelt. Wie die Unternehmen damit umgehen.

Peter Hergersberg

Christof Kazda hat Diabetes vom Typ 1. Seine Krankheit kann eine Seh- oder Konzentrationsschwäche verursachen, im schlimmsten Fall sogar eine Ohnmacht. Trotzdem ist Kazda berufstätig, und er sagt, dass er wegen seiner Zuckerkrankheit nie Probleme am Arbeitsplatz hatte. Jahrelang betreute er als Internist die Patienten einer Intensivstation. Wichtig war ihm, dass die Kollegen von seiner Krankheit wussten. So musste er sich das Insulin, das sein Körper nicht selbst herstellen kann, nicht heimlich spritzen. Und im Notfall schoben ihm die Kollegen schon mal eine Dose mit Cola rüber. Doch das war nur sehr selten notwendig.

Tabletten

Krank, na und: Nicht immer muss ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber eine chronische Erkrankung offenbaren.

(Foto: Foto: dpa)

Auf so viel Verständnis stoßen nicht alle Menschen mit Diabetes. Und neben der Zuckerkrankheit kann auch eine HIV-Infektion, eine psychische Erkrankung oder jede andere Einschränkung, die nicht augenfällig ist, zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz führen. Noch problematischer ist es, mit einem solchen Handicap einen neuen Job zu finden. Doch Unternehmen werden sich künftig vermehrt damit auseinandersetzen müssen, wie sie Arbeitsplätze auf Menschen mit nicht-sichtbaren Defiziten zuschneiden können.

"Wenn sie nicht heute schon Menschen mit einer chronischen Erkrankung integrieren, werden sie in einigen Jahren massive Schwierigkeiten bekommen", prophezeit Kurt Rinnert, Arzt des arbeitsmedizinischen Dienstes der Bau-Berufsgenossenschaft Rheinland und Westfalen: "Im Jahr 2020 wird die Hälfte aller Arbeitnehmer älter als 45 Jahre sein", sagt er. Darunter wird es viele Menschen geben mit Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder einem anderen Leiden, das sie behindert, aber weder berufs- noch arbeitsunfähig macht.

Ein weiterer Grund dafür, dass in Zukunft immer mehr Arbeitnehmer an chronischen Krankheiten leiden werden, sind die Fortschritte der Medizin. Christof Kazda schätzt, dass der Anteil der Berufstätigen unter den Diabetikern in den kommenden Jahren von 50 auf 80 Prozent steigen wird. In der Schweiz arbeiten heute schon 70 Prozent von 800 befragten Menschen mit einer HIV-Infektion. "In Deutschland sind es vermutlich etwa 50 Prozent", sagt Friedhelm Krey: "Wir haben in einer Studie aber festgestellt, dass 80 Prozent der Menschen mit HIV, die nicht erwerbstätig sind, wieder arbeiten möchten." Krey leitet die Arbeitgeberinitiative der Berliner Schwulenberatung und versucht, Unternehmen zu überzeugen, HIV-Positive nicht als Arbeitnehmer auszuschließen.

Dieses Projekt ist Teil des so genannten Equal-Programms, mit dem die Europäische Union und das Bundesministerium für Arbeit benachteiligten Menschen einen Weg in den ersten Arbeitsmarkt öffnen möchte. Die Realität sieht oft anders aus: "Wir beobachten seit etwa einem Jahr, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung eher in Rente geschickt als beruflich integriert werden", sagt Manfred Gunkel-Willms, der den Integrationsfachdienst Kiel leitet. Er hilft vor allem Menschen mit einer psychischen Erkrankung, einen Job zu finden oder zu behalten.

Die Bundesagentur für Arbeit führt keine Statistik darüber, ob die Zahl der arbeitenden Menschen mit einer chronischen Erkrankung derzeit eher wächst oder sinkt. Tatsache ist jedoch, dass die Behörde bei den Programmen zur beruflichen Integration von Menschen mit einer Behinderung sparen muss: "Seit einigen Monaten bewilligen wir solche Maßnahmen nur noch, wenn wirklich Aussicht auf Erfolg besteht", sagt Heinz Oberlach, Pressereferent der Bundesagentur für Arbeit. Der Sozialverband Deutschland beklagt denn auch, dass den Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken, die Menschen mit einer Behinderung auf einen Beruf vorbereiten, 40 Prozent der Klienten abhanden gekommen sind. Nun streichen diese Einrichtungen 1700 Stellen.

Ob ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber eine chronische Erkrankung offenbaren muss, hängt von Beruf und Krankheit ab: Um als Fernfahrer oder Dachdecker zu arbeiten, muss sich ein Arbeitnehmer regelmäßig medizinisch untersuchen lassen. Wer sich aber um eine Stelle als Pizzabäcker bewirbt, muss im Vorstellungsgespräch nicht gleich mit seiner HIV-Infektion herausrücken.

Krank im Elite-Arbeitsmarkt

Wie sie bei der Arbeitssuche und am Arbeitsplatz am besten mit ihrer Erkrankung umgehen, können chronisch kranke Menschen in verschiedenen Projekten des Equal-Programms lernen. Doch ihre Chancen, eine passende Stelle zu finden, sind derzeit schlecht. In einer Gesellschaft, in der nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit fünf Millionen Menschen nicht arbeiten, obwohl sie könnten macht ein Behindertenausweis die Jobsuche nicht gerade leichter.

Dabei wäre es für viele chronisch Kranke auch aus medizinischer Sicht sinnvoll, wieder zu arbeiten: Denn was jeder Arbeitslose vermisst - die Struktur des Tages, das Gefühl, gebraucht zu werden, und soziale Kontakte -, kann etwa Menschen mit einer Depression aus ihrem Tief heraushelfen. Davon ist Manfred Gunkel-Willms überzeugt.

Rolf-Dieter Kanitz, der psychisch kranke Menschen an den Kliniken des Kreises Pinneberg medizinisch und beruflich rehabilitiert, geht sogar noch weiter: Er lobt in puncto beruflicher Integration die psychiatrischen Anstalten des 19. Jahrhunderts, in denen morgens jeder Patient an die Werkbank oder aufs Feld ging. Nach dem Massenmord an psychisch kranken Menschen während der Diktatur der Nationalsozialisten handelten Psychiater bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dagegen nach der Maxime: versorgen, aber isolieren. "Das hat sich zwar geändert", sagt Kanitz: Inzwischen soll eine Therapie möglichst zurück in den Beruf führen. "Jetzt haben wir aber einen Elite-Arbeitsmarkt."

Dieser Arbeitsmarkt, auf dem nur noch die Leistungsfähigsten eine Chance haben, macht so manchen Arbeitnehmer erst depressiv: Der Anteil der Berufstätigen, die arbeitsunfähig werden, weil sie psychisch erkrankt sind, ist in den letzten zehn Jahren stetig gestiegen: zwischen 1997 und 2004 um etwa 40 Prozent, wie die Deutsche Angestellten Krankenkasse in ihrem Gesundheitsreport berichtet. Die Weltgesundheitsorganisation WHO prognostiziert, dass die Depression im Jahr 2020 weltweit die Nummer zwei unter den Krankheiten sein wird, die zu einer Behinderung führen.

Das liegt auch daran, dass die, die Arbeit haben, immer mehr schuften und trotzdem um ihren Job fürchten müssen. Immerhin: Viele Personalchefs haben das Problem erkannt: "Sie interessieren sich sehr für unsere Veranstaltungen zu diesem Thema", sagt Kanitz. Dort rät er zum Beispiel, dass Vorgesetzte ihre Untergebenen loben oder sie in Umstrukturierungen früh einbinden sollen. Erstaunlich an diesen Empfehlungen ist vor allem, dass Vorgesetzte sie brauchen.

Damit Menschen, die psychisch erkranken, ihren Arbeitsplatz behalten können, muss sich oft nur wenig verändern. Der Schreibtisch eines kaufmännischen Angestellten etwa, dem Gunkel-Willms geholfen hat, steht jetzt nicht mehr in einem hektischen Großraumbüro, sondern an einem stilleren Ort. Und wenn der Druck zu groß wird, darf sich der Angestellte mit entspannender Musik ablenken. Nicht immer ist es so einfach: "Manchmal wechseln Arbeitnehmer in ihrer Firma mehrmals den Arbeitsplatz, bis sie eine Aufgabe gefunden haben, die sie nicht überfordert", sagt Gunkel-Willms.

Zuckerdepot im Schornstein

"Chronisch kranke Menschen brauchen individuelle Lösungen, damit sie ihren Arbeitsplatz behalten können", sagt Arbeitsmediziner Kurt Rinnert. Er hilft selbst, solche Lösungen zu finden. Zum Beispiel im Fall des Arbeiters, dessen Job es war, Schornsteine abzureißen. Als dieser die Diagnose Diabetes erhielt, lag sein Arbeitsplatz an der Spitze der Schornsteine. Sowohl die Kollegen als auch sein Chef haben ihn in dieser Situation sehr unterstützt: "Sie haben zum Beispiel einzelne Backsteine aus dem Kamin herausgebrochen, um auf dem Weg nach oben Traubenzuckerdepots anzulegen", sagt Rinnert. Auch auf seinen Rat hin steuert der Mann inzwischen den Bagger, mit dem er den Schutt der Schlote wegräumt.

Solche individuellen Lösungen sind jedoch nicht die Regel. Zwar hat der Ausschuss Soziales der deutschen Diabetes-Gesellschaft schon vor zwei Jahren neue Empfehlungen veröffentlicht, mit denen Arbeitsmediziner individuell beurteilen können, welche Berufe ein Diabetiker ausüben darf: Außer als Taucher oder im Angriffstrupp der Feuerwehr kann er demnach im Prinzip in jeder Funktion arbeiten. Doch viele Arbeitsmediziner entscheiden immer noch nach alten Listen und Tabellen, nach denen etwa ein Dachdecker mit Diabetes berufsunfähig ist. Manchen Unternehmen ist das willkommen: "Sie können diese Listen gegen chronisch kranke Mitarbeiter einsetzen, wenn sie Stellen abbauen wollen", sagt Rinnert.

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