Ein Japaner in Deutschland:Zum ersten Mal zweieinhalb Wochen am Stück frei

In seinem Heimatland schuftete er mehr als zwölf Stunden am Tag und hob sich Urlaubstage für den Fall auf, dass er krank wird. Als er einmal schon um halb sieben zu Hause war, fragte seine Frau, ob er gefeuert worden sei. Jetzt arbeitet der Japaner Tsuyoshi Noguchi in Deutschland und macht einige neue Erfahrungen.

Jennifer Lange

Von Tokio nach München. Dabei seine Ehefrau und die zwei kleinen Söhne. Seit Mai arbeitet der Japaner Tsuyoshi Noguchi in Deutschland - und erlebt hier eine ganz neue Arbeitskultur. Zwei Jahre lang soll der 39-jährige Mitarbeiter der Munich Re in der Konzernzentrale bleiben - zuständig für die japanischen Klienten des Münchner Rückversicherers.

Ein Japaner in Deutschland: Der Japaner Tsuyoshi Noguchi vor der Munich Re. Der 39-Jährige ging zum Master-Studium in die USA und jetzt zum Arbeiten nach Deutschland.

Der Japaner Tsuyoshi Noguchi vor der Munich Re. Der 39-Jährige ging zum Master-Studium in die USA und jetzt zum Arbeiten nach Deutschland.

(Foto: J.Lange)

SZ: Herr Noguchi, in Japan gibt es ein Sprichwort: Ist der Ehemann gesund und nicht zu Hause, ist alles in Ordnung. Gilt das auch in Ihrer Familie?

Noguchi: Das stammt aus einem bekannten TV-Spot und wird sicher von vielen auch so wahrgenommen. Als ich einmal schon um halb sieben zu Hause war, fragte mich meine Frau total überrascht: Was ist passiert? Hast du deinen Job nicht gut gemacht? Bist du gefeuert worden? Ein Arbeitstag von 8.30 Uhr bis neun Uhr abends ist bei japanischen Firmen völlig normal. Es gab auch eine Zeit, da musste ich mich beeilen, meine letzte Bahn um Mitternacht zu bekommen. Vom Büro brauchte ich in Tokio noch eine Stunde nach Hause. Lange Arbeitszeiten sind in Japan üblich, vor allem im Dienstleistungssektor. Sie sind ein Zeichen, dass man immer für den Kunden da ist. So verbringen Sie wesentlich mehr Zeit mit den Kollegen als mit ihrer Familie. Hier ist die Arbeitskultur anders, es gibt eine klare Trennung zwischen Arbeitszeit und Privatleben, wie schon das deutsche Wort "Feierabend" erkennen lässt.

SZ: Manche Unternehmen schalten inzwischen abends das Licht aus, damit alle Mitarbeiter nach Hause gehen. Warum arbeiten Japaner freiwillig so lange?

Noguchi: Aus Stolz und Verantwortungsbewusstsein. Sie wollen nicht, dass ein Kollege ihre Arbeit erledigen muss. Ein Japaner möchte seinen Kollegen nicht zur Last fallen. Also machen sie weiter, auch wenn das übertrieben sein kann und auch nicht der effizienteste Weg ist. Daher achten immer mehr Chefs von großen Firmen darauf, dass ihre Mitarbeiter früher gehen. Hier in Deutschland ist das weniger ein Thema, da die Mitarbeiter stärker selbst ihre Zeit managen und Prioritäten setzen.

SZ: Wie wichtig ist der Job in der japanischen Gesellschaft und wie wichtig ist im Gegensatz dazu die Familie?

Noguchi: Japaner fühlen sich als Teil einer Gemeinschaft, eines Kollektivs. Natürlich ist die Familie auch ein Kollektiv, aber sie versteht, dass der Mann auch noch zu einer anderen Gruppe gehört. Das ist wichtig für die Karriere. Dabei muss man bedenken: 80 Prozent der Japaner arbeiten ihr ganzes Leben bei einer einzigen Firma, also manchmal 40 Jahre lang. Die Kollegen sind auch deine Freunde, sie sind wie eine zweite Familie.

"Japaner wollen jeden zufriedenstellen, niemanden enttäuschen"

SZ: Karoshi - also der Tod aus Überarbeitung - ist ein großes Thema in Japan. Ein Mitarbeiter eines großen Konzerns, 30 Jahre alt, Vater von zwei kleinen Kindern, starb 2006 bei der Arbeit an einem Herzinfarkt. Den Monat vorher hatte er 114 Überstunden gemacht. Warum wird so etwas nicht verhindert?

Noguchi: Solche Einzelfälle zu bewerten, fällt mir schwer. Aber das gab es in der Vergangenheit öfter, besonders in der Zeit des Wirtschaftsbooms in den 1970er und 1980er Jahren. Heute sind die Manager sensibler, wenn es um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter geht. Doch besonders Spezialisten stehen noch unter Druck, immer den hohen Anforderungen gerecht zu werden. Sie wollen jeden zufriedenstellen, niemanden enttäuschen. Viele Japaner sind heute wegen dieses Drucks mental total am Boden. Unternehmen begegnen dem mit Tests, die auf erste Anzeichen für einen Zusammenbruch hindeuten. In ernsten Fällen werden Angestellte dann betreut, manchmal wechseln sie die Position.

SZ: Wenn viele unter so einem mentalen Druck stehen, warum nehmen sie dann nicht die Urlaubstage, die ihnen rechtlich zustehen?

Noguchi: Die meisten Japaner haben Anspruch auf 20 bis 25 freie Tage im Jahr, plus Feiertage. Sie nehmen aber in der Regel maximal vielleicht 15 Tage frei. Den Rest heben sie sich auf, falls sie krank werden. Denn Fehltage wegen Krankheit werden, im Gegensatz zu Deutschland, von den Urlaubstagen abgezogen. Wenn ein Japaner Urlaub nimmt, macht er das fast entschuldigend, anstatt es als sein Recht wahrzunehmen. In Deutschland habe ich das erste Mal zweieinhalb Wochen am Stück freigenommen. Das hätte ich in einem japanischen Unternehmen nie gemacht. Es war zuerst ein komisches Gefühl. Geholfen hat mir, dass ich für die Zeit einen Stellvertreter hatte. In Japan muss man sich oft Sorgen machen, was es alles zu tun gibt, wenn man zurückkehrt. Nur meine japanischen Klienten waren etwas verunsichert: Was, wir können Sie über zwei Wochen nicht erreichen?

SZ: In Deutschland wird viel über das Renteneintrittsalter diskutiert. Die wenigsten wollen mit 65 Jahren weiter jeden Tag zur Arbeit gehen. Warum ist es in Japan so verbreitet, während der Rente zu arbeiten?

Noguchi: Das hat erstens finanzielle Gründe. Zweitens hat die Firma Interesse an der langjährigen Erfahrung ihrer älteren Mitarbeiter. Drittens wollen viele nicht ihr vertrautes Kollektiv verlieren. Viele Japaner denken sich, ich bin 65, noch gesund, warum soll ich dann nicht noch ein paar Jahre arbeiten? Es nutzt allen - auch wenn sie in Teilzeit oft nur noch die Hälfte verdienen. Ihre Hauptaufgabe ist es, ihr Wissen an die Jungen weiter zu geben.

SZ: Warum stellen japanische Unternehmen junge Uni-Absolventen nur einmal im Jahr ein, immer im April?

Noguchi: Der Abschluss am College ist im März. Im April beginnt in den Unternehmen das Geschäftsjahr. Dann sehen sich Firmen und Behörden Tausende Studenten an und stellen die Besten ein. In den ersten Arbeitstagen durchläuft man dann alle Abteilungen. Denn in Japan bewirbt man sich, anders als in Deutschland, für ein Unternehmen, nicht für eine bestimmte Position. Daher würden mich japanische Freunde auch nie fragen: Was arbeitest du? Sondern immer, für welches Unternehmen ich arbeite. Die Firma platziert einen nach den ersten Wochen auf einer Stelle. Später rotiert man alle drei, vier Jahre zwischen verschiedenen Positionen. Man ist sozusagen Teil eines Puzzles.

SZ: Sie haben auch schon einige Jahre in den USA gelebt. Was genießen Sie hier in Deutschland am meisten?

Noguchi: Das wichtigste für mich ist, die Unterschiede kennen zu lernen. Ich möchte mich auf Deutschland richtig einlassen. Ich sitze hier zwar auch in einem Großraumbüro, aber ich habe doppelt so viel Platz. Schön ist auch, dass ich mehr Zeit für meine Familie habe. Meine Frau ist jetzt nicht mehr überrascht, wenn ich um halb sieben vor der Haustür stehe.

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