Doping im Job:"Pillen zu schlucken, ist nichts Besonderes mehr"

Bis zu 800.000 Beschäftigte dopen sich im Job: Sie schlucken Pillen, um Leistung zu bringen. Ein Psychologe über Stress, Ehrgeiz und Missbrauch von Medikamenten.

J. Bönisch

Zwei Millionen deutsche Beschäftigte haben schon einmal leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente eingenommen, um im Job besser mithalten zu können. Zwischen 400.000 und 800.000 Menschen gehören sogar zu regelmäßigen Dopern, so das Ergebnis einer repräsentativen Untersuchung der Krankenversicherung DAK (mehr...). Der Diplom-Psychologe Frank Meiners erläutert die Ergebnisse.

Doping im Job: Doping am Arbeitsplatz: Jeder fünfte Arbeitnehmer hält die Einnahme von Medikamenten ohne medizinische Erfordernis für vertretbar, um die Leistung im Job zu steigern.

Doping am Arbeitsplatz: Jeder fünfte Arbeitnehmer hält die Einnahme von Medikamenten ohne medizinische Erfordernis für vertretbar, um die Leistung im Job zu steigern.

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sueddeutsche.de: Herr Meiners, Doping verbinden wir eigentlich mit Radsport oder Leichtathletik - nicht mit Arbeit. Müssen wir uns auch an Aufputschmittel auf dem Schreibtisch gewöhnen?

Frank Meiners: Unsere Studie hat ergeben, dass zwischen 400.000 und 800.000 Beschäftigte in Deutschland echte Doper sind. Das entspricht etwa ein bis zwei Prozent der Beschäftigten. Etwa fünf Prozent dopen zwar nicht häufig, haben aber schon einmal nachgeholfen. Das ist sicherlich noch keine erschreckend hohe Zahl, trotzdem ist die Entwicklung besorgniserregend.

sueddeutsche.de: Was macht einen echten Doper aus?

Meiners: Ein echter Doper konsumiert gezielt, regelmäßig und häufig, das heißt mehrmals in der Woche oder sogar täglich. In unserer Studie ging es dabei nicht um das sogenannte Alltagsdoping mit viel Kaffee, Vitamintabletten oder Knoblauchpillen, sondern um die systematische Anwendung von Pharmaka durch eigentlich gesunde Menschen.

sueddeutsche.de: Welche Medikamente nehmen Doper ein?

Meiners: In der Regel geht es um drei Arten von Substanzklassen: Antidepressiva wirken bei Gesunden beruhigend und entspannend. Antidementiva, die eigentlich für Demenzkranke gedacht sind, sollen die Leistung steigern. Betablocker dagegen, die Ärzte bei Bluthochdruck einsetzen, werden zur Bewältigung von Stress und Ängsten eingesetzt. Wir haben auch ADHS-Mittel für Kinder, die unter dem sogenannten Zappelphilipp-Syndrom leiden, untersucht. Bei Erwachsenen sollen sie die Konzentrationsfähigkeit verbessern.

sueddeutsche.de: Wirken die Medikamente so, wie von den Dopern erhofft?

Meiners: Viele Doper überschätzen die Wirkung der Pillen. Offensichtlich klafft hier eine relativ große Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Nicht nur, dass die Medikamente oft gar nicht so leistungssteigernd sind wie erwartet - sie haben auch noch beträchtliche Nebenwirkungen: Sie verursachen Herz-Rhythmus-Störungen, Unruhe, Schlafstörungen, Impotenz oder können sogar Selbstmordgedanken auslösen.

sueddeutsche.de: Wer nimmt solche Mittel ein?

Meiners: Experten vermuten, dass vor allem Berufsgruppen wie Manager, Börsianer, Journalisten oder Ärzte dopen. Besonders betroffen sind Menschen, die in einer sehr deregulierten Arbeitssituation stecken - also alle, die sehr viele Überstunden machen, nachts arbeiten müssen oder anders stark beansprucht werden. Ein Ergebnis unserer Studie ist zudem, dass mehr gesunde Frauen Medikamente nehmen als gesunde Männer: 23,5 Prozent haben schon einmal gedopt, bei den Männern sind es nur 11,5 Prozent.

sueddeutsche.de: Warum dopen Frauen häufiger?

Meiners: Diese Frage können wir mit der Studie nicht genau beantworten. Wir stellen aber fest, dass Männer und Frauen aus anderen Motiven dopen - und deshalb auch unterschiedliche Mittel einnehmen. Männern geht es vor allem darum, mehr Leistung zu bringen. "Schneller, höher, weiter" lauten die Schlagworte, deshalb nehmen sie eher konzentrationssteigernde und aufputschende Mittel ein. Frauen dagegen geht es nicht so sehr um Leistungssteigerung, sondern um Stressbewältigung. Sie leiden unter der Doppelbelastung von Familie und Beruf und den Konflikten zwischen den beiden Welten.

sueddeutsche.de: Woher beschaffen sich Doper ihre Pillen? Funktioniert das wie bei Drogen?

"Pillen zu schlucken, ist nichts Besonderes mehr"

Meiners: Nein, denn Haschisch oder Koks sind illegal. Im Gegensatz dazu sind die Medikamente der Doper alle legal und zugelassen. Hat ein Kranker ein Rezept dafür, wird er sie auch ganz einfach bekommen. Für Gesunde ist es dagegen nicht so simpel. Sie beschaffen sich die Pillen im Ausland, wo die Rezeptpflichten laxer gehandhabt werden. Sie bestellen bei Internet-Apotheken, erhalten von ihrem Arzt vielleicht auch mal ein Ärztemuster oder besorgen sich die Mittel bei Freunden und Bekannten.

sueddeutsche.de: Wie muss man sich das vorstellen? Gibt die Mutter eines Kindes mit ADHS dann die Pillen weiter?

Meiners: So in etwa. Es gibt auch Wunschverordnungen: Dabei bekommen Gesunde ein Mittel auf Privatrezept verordnet. Oder man tauscht sich aus und bekommt von Kollegen Tipps, wie die Medikamente zu beschaffen sind.

sueddeutsche.de: Besitzen die Doper ein Unrechtsbewusstsein?

Meiners: Das hängt natürlich immer von der Reflexionsfähigkeit des Einzelnen ab. Den meisten ist vermutlich klar, dass das, was sie tun, auf Dauer nicht gesund ist. Trotzdem nehmen sie lieber eventuelle Nebenwirkungen in Kauf als im Job kürzer zu treten.

sueddeutsche.de: Was unternehmen Arbeitgeber dagegen? Oder ist es Firmen sogar recht, wenn ihre Mitarbeiter auf diese Weise ihre Leistungsfähigkeit steigern?

Meiners: Natürlich freut sich jedes Unternehmen über Höchstleistungen. Auf Dauer werden Doper jedoch richtig krank, irgendwann steigt der Körper aus - und das ist nicht mehr im Sinne des Arbeitgebers. Grundsätzlich ist aber jeder Mitarbeiter selbst dafür verantwortlich, sich zu entspannen und das richtige Maß zwischen arbeitsintensiven und ruhigen Phasen zu finden. Doper schaffen das nicht. Sie sind überdurchschnittlich leistungswillig sowie hochmotiviert und passen sich dem Ideal der 24-Stunden-Dienstleistungsgesellschaft an.

sueddeutsche.de: Das heißt, sie dopen nicht, weil das Unternehmen sie stresst, sondern weil sie sonst ihren eigenen Ansprüchen nicht mehr genügen?

Meiners: Im Prinzip ja. Doper empfinden nicht zwingend ein Defizit im Unternehmen, etwa großen Druck. Vielmehr ist es ihre eigene Entscheidung, immer mehr leisten zu wollen oder - gerade bei berufstätigen Frauen - dem eigenen Perfektionismusanspruch gerecht zu werden. Wer sowohl in der Familie als auch im Job vollkommen sein will, schafft das eben nicht immer ohne Hilfsmittel.

sueddeutsche.de: Wird das Phänomen zunehmen?

Meiners: Ja, wir rechnen damit, dass sich der Trend fortsetzt und die Zahl der Doper in Zukunft steigt. Erstens erschweren es Smartphones und E-Mail, abzuschalten und die Arbeit auch mal Arbeit sein zu lassen. Zweitens steigt in der Gesellschaft die Akzeptanz, solche Medikamente zu nehmen. Lifestylepillen gegen Haarausfall oder für glattere Haut haben die Entwicklung eingeläutet: Heute nehmen wir bei Wehwehchen, die wir früher akzeptiert hätten, bereitwillig Tabletten. Es ist nichts Besonderes mehr, Pillen zu schlucken. Das wird sich auch auf das Doping am Arbeitsplatz auswirken.

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