Behandlung von Burn-out-Syndrom:Endlich nicht mehr perfekt sein

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Der Zwang zur Leistung brennt viele Führungskräfte aus. Die Betroffenen ignorieren oft alle Signale - bis es zu spät ist. Zu Besuch in einer Klinik für Burn-out-Patienten.

P. Meyer

Nur einen kurzen Augenblick dauert das gewaltige Dröhnen im Kopf. Als würden vom Hals aufwärts zwei Hubschrauber zu ihren Ohren aufsteigen. Die Rotoren lärmen so laut, dass Christina L. fürchtet, ihr Schädel könnte zerplatzen. Panisch hält sie sich die Ohren zu, als ließen sich so die Furcht einflößenden Vibrationen und der Lärm stoppen.

Vergeblich. Stattdessen jagt ein greller Blitz durch ihren Kopf. Dann: Stille. Ohnmächtig sackt sie auf ihrem Schreibtischstuhl zusammen. Es ist ein Freitag im September 2007, als die Vertriebsmanagerin Christina L. ohne Vorwarnung einen folgenschweren Hörsturz erleidet. Sekunden zuvor hat sie ihre 96. Telefonkonferenz in dieser Woche beendet, die letzte für eine sehr lange Zeit.

In ihrem Unternehmen, das weltweit Kunden mit moderner IT-Technik beliefert, betreut sie den Bereich Europa. Und da Reisen mittlerweile zu kostspielig sind, hängt Christina L. oft stundenlang an der Strippe. Sie spricht fließend Englisch, doch ihre Gesprächspartner radebrechen oft. Die Sprachbarrieren gleicht sie mit höchster Konzentration aus. Mit Erfolg. In nur drei Jahren schraubte sie den Umsatz von 300 Millionen auf eine Milliarde Euro hoch.

Als sie an jenem Freitag wieder zu Bewusstsein kommt, ist nichts mehr wie zuvor. Das Dröhnen ist zwar verschwunden, doch nur, um einem sehr lauten schrillen Ton in beiden Ohren zu weichen. So laut, dass Christina L. nichts anderes mehr wahrnehmen kann. Hören im üblichen Sinne ist wochenlang unmöglich. Nur über Mimik, Gestik und Lippenlesen errät sie, was andere ihr sagen.

23 Wochen Therapie

Ihr Arzt überweist sie in die Gezeitenhaus-Klinik, die hoch über Bad Godesberg am Waldrand liegt. Von außen eher unscheinbar, ist die Privatklinik innen eine Oase der Ruhe und des Lichts. Viel Glas, Holzböden, moderne Möbel und chinesische Einrichtungskunst schaffen eine Atmosphäre, in der Atmen leicht fällt. Hier erhalten Menschen wie Christina L. Hilfe. Menschen, die dem ständigen Druck im Job und den inneren Leistungsantreibern nicht standhalten und, irgendwann, erschöpft zusammenbrechen. 23 Therapiewochen verbringt L. hier, ungewöhnlich lange. Danach soll sie alle zwei Wochen für einen Tag kommen.

Die Mitfünfzigerin wirkt zierlich, beinahe jugendlich, mit ihren kurzen, blonden Haaren und den blauen Augen, die mitunter strahlen. So sehr, dass kaum auffällt, wie Christina L. um die richtigen Worte ringt, sie zeitverzögert ausspricht und das leichte Zittern in der Stimme zu überspielen versucht. Denn seit dem Hörsturz quälen sie nicht nur die Geräusche im Ohr.

"Erst nach sieben Wochen ist meine Erinnerungsblockade aufgefallen", sagt sie. "Ich konnte kein Wort Englisch mehr, alles war weg." Mittlerweile ist die Fremdsprache kein Problem mehr, doch in ihrer Muttersprache hakt es hin und wieder noch.

Preußischer Drill auf Leistung

Die unperfekte Sprache stört sie. Doch sie versucht, diesen Makel anzunehmen. Mit ihrem alten Credo "ich muss" kommt sie einfach nicht mehr weiter. Es hat sie Grenzen übertreten lassen, die sie sehr wohl gespürt hat. In ihrer Firma bittet sie mehrmals um Entlastung, doch vergeblich. "Mein extremer preußischer Drill auf Leistung", sagt sie, "hat mich immer weiter nach vorn getrieben.

Ich habe nach Anerkennung gelechzt und bin immer tiefer in den Strudel geraten. Urlaube, selbst kurze, habe ich gemieden." Denn Freizeit bedeutet: möglichst viel vorarbeiten und nachher Liegengebliebenes aufholen. Schlimmer noch als die Arbeit sind indes die durchwachten Nächte im Urlaub. "Mein Körper war wie ein Adrenalin-Junkie, der ständig exzessiv nach Taten schrie."

Wie ein Magnet wirkt daher anfangs das riesige Waldgebiet auf sie, das die Klinik umgibt. Dort reagiert sie sich ab, läuft sich leer. "Ich wollte den Tiger aus mir herausbekommen", sagt sie, "diese verdammte Disziplin, diesen Leistungszwang". Alle Warnzeichen hat sie um des alten Credos willen geleugnet: permanente Erschöpfung, Appetitlosigkeit, Schlafprobleme, extreme Ruhelosigkeit. "Ich hatte ja ein tolles Blutbild, gesunde Organe", sagt sie beinahe entschuldigend.

"Alle Werte waren sehr gut"

Auch Johann G. ging regelmäßig zum Arzt und hielt sich lange für topfit. "Alle Werte waren sehr gut für mein Alter", sagt der 67-jährige Bayer stolz. In legerem Outfit, wie er es sonst wohl nur zu Hause trägt, sitzt er ruhig da. Businesskleidung habe er auch dabei, versichert er. "Aber die trägt hier keiner."

Seiner Firma, erzählt er, ging es viele Jahre gut. Vor zwei Jahren aber geriet sie ins Straucheln. Der Unternehmer, der seit seinem 22. Lebensjahr nichts anderes kennt als Arbeiten und Kämpfen, tut alles, um den Laden beisammenzuhalten. "Mein ganzes Herzblut steckt in der Firma. Die Lokomotive in mir lief wie geschmiert, immer weiter, ohne Pause. Ich habe schlicht nicht gemerkt, wie weit ich den Bogen überspannt hatte."

Im Mai 2008 tauchen auch bei ihm erste Ohrgeräusche auf. Doch er lässt nicht locker, hält den engen Terminplan ein. Bis er einen so schlechten körperlichen und seelischen Zustand erreicht, dass nichts mehr geht. Er selbst weist sich in die Gezeitenhaus-Klinik ein.

Zunächst genießt er die angenehme Atmosphäre, fühlt sich beinahe wie "in einem Vier-Sterne-Hotel". Dann, völlig unerwartet, springt ihn in der zweiten Woche die Ruhe an. "Sie war mörderisch", erinnert er sich. "Mein Körper glich einem lodernden Vulkan, als würde ich innerlich verbrennen. Ich spürte: Entweder zerreißt es mich, oder ich muss mich ändern."

Körper und Seele als Einheit

"Das geht vielen so", erklärt Manfred Nelting, Chefarzt der 36-Betten-Klinik. "Wer aus dem beruflichen Getöse hier ankommt, kämpft anfangs vor allem gegen die Ruhe an." Die meisten Patienten sähen nur Pflichten, Ziele und schnelle Lösungen.

"Damit aber laufen sie bei uns ins Leere. Hektik und Zeitnot gibt es hier nicht. Viele halten das kaum aus. Meditation und Qigong empfinden sie als unerträgliche Zumutung", sagt Nelting. Denn in der Stille und langsamen Bewegung tauchen Ängste aus der Tiefe auf, die es um jeden Preis zu verdrängen gilt.

Als der heute 58 Jahre alte Nelting vor vier Jahren mit seiner Frau die Klinik gründete, wollten beide etwas Neues schaffen: einen Ort, an dem Körper und Seele als Einheit gesehen werden. Im Zentrum steht für sie die Arbeit mit dem Körper, dem Träger für nachhaltige Gesundheit.

Durch viele Aufenthalte in China, wo Neltings Mutter geboren wurde, kommen sie eng mit der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) in Berührung. In der Klinik spielt sie eine wesentliche Rolle. TCM, so Nelting, stärke im Gegensatz zur westlichen Medizin die Selbstverantwortung und Eigenwahrnehmung der Patienten.

Schmerz ist das einzige Gefühl

Beides ist dringend nötig. Denn wer in die Gezeitenhaus-Klinik kommt, leidet meist unter einer Hyperreaktion im Stresssystem. "Schmerz ist oft das Einzige, was die Patienten überhaupt noch spüren. Ansonsten sind sie wie betäubt, tragen Scheuklappen", sagt der Chefarzt. Mit Körper- und Psychotherapie, Akupunktur, chinesischer Heilmassage, Meditation oder Qigong bringt das Klinikteam die Burnout-Patienten wieder in die Balance. Etwa 600 waren es seit der Gründung im Jahr 2004.

Wer die Klinik verlässt, ist durchaus wieder leistungsfähig. "Was allerdings nachher als 100 Prozent gilt, muss jeder für sich neu definieren. Fern der Mitte kann niemand dauerhaft überleben", meint der Arzt. Deshalb ärgert er sich auch über die Alibi-Angebote vieler Firmen.

"Sie bieten Broschüren zu Burnout an, Vorträge und Seminare. Doch danach gehen alle an ihren Arbeitsplatz und machen weiter wie bisher." Solange aber Mitarbeiter keine Wertschätzung erführen, Delegation, Kommunikation und größere Gestaltungsspielräume ignoriert würden, bleibe alles beim Alten. "Bald aber wird Gesundheit zum Wettbewerbsfaktor werden", sagt er.

Johann G. und Christina L. sind noch nicht über den Berg. Doch sie werden es schaffen, davon ist der Chefarzt überzeugt. Auch, weil ihr soziales Netz intakt ist. "Den Wert der Familie habe ich erst jetzt richtig gespürt", sagt der Unternehmer G.. Und die Vertriebsmanagerin L. gesteht: "Mein Partner genießt, wie ich jetzt bin: endlich nicht mehr perfekt."

© SZ vom 29.11.2008/heh - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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