Schulsysteme in Deutschland:Bildungschancen - die Postleitzahl entscheidet

Längeres gemeinsames Lernen hilft den Schwachen. Doch die haben keine Lobby, wie der Entscheid in Hamburg gezeigt hat. Größere Gerechtigkeit muss trotzdem geschaffen werden.

Tanjev Schultz

Geht es um die Schule, tragen viele Eltern zwei Seelen in ihrer Brust. Sie wünschen sich eine Schule, in der ihr Kind lernen und Fehler machen kann, ohne ständig bewertet, einsortiert und angetrieben zu werden. Diese Stimme sagt: Lasst die Kinder möglichst lange in der Grundschule, gebt ihnen Zeit, miteinander und voneinander zu lernen! Doch da ist noch die andere Seele. Sie ist besorgt, ob das Kind genug lernt. Und ob es nicht unter schlechten Einfluss gerät, wenn es jahrelang mit schwächeren Schülern in derselben Klasse bleibt. Diese Stimme ruft: Schick' dein Kind aufs Gymnasium, so schnell du kannst!

In Hamburg ist die zweite Stimme lauter gewesen als die erste. Gegen die Schulreform haben Bürger mobil gemacht, die um den Status des Gymnasiums fürchteten, und damit wohl auch um ihren eigenen Status und den ihrer Kinder.

In der Vorstellung des schwarz-grünen Senats sollte die Primarschule, eine auf sechs Jahre verlängerte Grundschule, zur Integration beitragen, zum Zusammenhalt einer bedrohlich auseinanderdriftenden Gesellschaft. Das ist misslungen, auch atmosphärisch. Im Wahlkampf vor dem Volksentscheid trommelten einige Chefärzte so vehement gegen die Reform, als müssten sie das Abendland vor der Pest retten. Sollten auch sie zwei Seelen in ihrer Brust getragen haben, blieb eine davon leider gut verborgen.

Wie weit soll die Segregation gehen?

Vor dem Volksentscheid hat sich Ole von Beust über manche Reformgegner beklagt. Sie hätten zugegeben, nicht zu wollen, dass ihre Söhne und Töchter länger als unbedingt notwendig mit Migrantenkindern zur Schule gehen. Es ist natürlich normal, dass Eltern das Beste für ihr Kind wollen. Man kann nicht verlangen, dass sie den Erfolg ihres Kindes einer guten Sache opfern (der Integration, dem Multikulturalismus). Doch für die Gesellschaft wird die Spaltung in Privilegierte und Deklassierte immer mehr zur Gefahr. Wie weit soll die Segregation denn noch gehen? Soll sie schon im Kindergarten und in der ersten Klasse beginnen?

Leider fehlt gerade denen eine starke Lobby, die sie im deutschen Bildungssystem am meisten bräuchten: den Armen, den Kindern von Hartz-IV-Empfängern und den Migranten. Sie sind es, um die man sich wirklich Sorgen machen muss; nicht so sehr um die Kinder der Chefärzte, die ihren Weg wohl selbst dann machen würden, wenn man sie eine ganze Weile gar nicht zur Schule schickte.

Bereits jetzt unterscheiden sich die Viertel einer Großstadt in ihrer sozialen Struktur so stark, dass die Postleitzahl der Grundschule, die ein Kind besucht, viel über seine späteren Chancen aussagt. Daran würde allerdings eine längere Grundschulzeit nichts ändern. Eher könnte sie den Trend verstärken, dass bildungsbewusste Bürger mit ihren Kindern auf bessere Stadtteile und auf Privatschulen ausweichen. Das Ziel der Hamburger Schulreform - mehr Chancen für sozial Schwächere - war zwar alle Ehren wert. Fraglich ist jedoch, ob es durch die Primarschule erreicht worden wäre. In Berlin gibt es die sechsjährige Grundschule bereits, und dort sind die Ergebnisse ziemlich ernüchternd.

Von der Wissenschaft kann man sich in der Frage übrigens nicht viel Aufklärung erhoffen. Es gibt diese und jene Studien, die Befunde sind gemischt, und für den Erfolg oder Misserfolg eines Schulsystems kommt es nicht allein auf einen Faktor wie die Dauer der Grundschule an. Viele Bildungsforscher halten sich deshalb bei dem Thema zurück, einige raten zu, andere raten ab. "Die Forderung ist noch nicht verkündet, die ein deutscher Professor uns nicht begründet", hat Kurt Tucholsky gedichtet, und so ist es auch in der Schulpolitik.

Entschieden haben in Hamburg die Wähler, und ihr Votum wird weit über die Hansestadt hinaus die Politik in Deutschland beeinflussen. Denn nun müssen sich andere - die Jamaika-Koalition im Saarland, FDP und Opposition in Bayern - gut überlegen, ob es sich wirklich lohnt, ihre Kraft in das Projekt einer längeren Grundschule zu investieren, das bei den Bürgern so großen Widerstand provoziert. Das Hamburger Beispiel ist generell ein Warnsignal an Politiker, sich an Bildungsreformen nicht zu verheben.

Aus dem Eifer wurde ein Bumerang

Die grüne Schulsenatorin Christa Goetsch ist in Hamburg mit einem Eifer ans Werk gegangen, der sich am Ende gegen sie wendete. Dabei hat Goetsch durchaus Gutes bewirkt, und die wirklich wichtigen Elemente ihrer Reform haben den Volksentscheid überlebt: die Fusion der Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu sogenannten Stadtteilschulen, die Reduzierung der Klassengröße in Schulen mit hohem Migrantenanteil, die verstärkte Fortbildung der Lehrer und die Ausrichtung des Unterrichts am Leitbild individueller Förderung.

Alle diese Schritte können dazu beitragen, schwächere Schüler zu stärken und möglichst lange offen zu halten, welchen Abschluss sie am Ende erwerben. Hamburg kann damit immer noch zu einem Vorbild für andere Bundesländer werden. Die um zwei Jahre verlängerte Grundschule wäre organisatorisch ein Kraftakt gewesen, der viel Energie gebunden hätte. Diese Energie kann jetzt in die frühkindliche Bildung, in die Qualität des Unterrichts und die Stabilisierung der neuen Stadtteilschulen fließen.

Das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich, zwischen Bildungsverlierern und Bildungsgewinnern muss gestoppt werden. Das kann, das muss das Land auch ohne Primarschulen schaffen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: