Bildungspolitik:Gleiche Bildungschancen für alle

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Unser Schulsystem trennt zu früh nach sozialer und ethnischer Herkunft. So verbaut es Kindern systematisch alle Chancen..

Cem Özdemir

Unsere Gesellschaft wird heute von vielen, insbesondere auch jungen Menschen als blockiert empfunden. Früher mündete die Hauptschule in eine berufliche Lehre im dualen Ausbildungssystem. Heute hat auch ein Jahr nach Schulabschluss jeder zweite Hauptschüler noch keinen Ausbildungsplatz gefunden. Dann gibt es noch jene, die studieren könnten, aber aus verschiedenen Gründen darauf verzichten: Fast jedes zweite studienberechtigte Kind aus einer Arbeiterfamilie, das auf dem Weg zum Abitur schon mehr Hürden überwinden muss als andere, scheut den Weg an die Universität.

Cem Özdemir: Er ist Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und Abgeordneter des Europäischen Parlaments. (Foto: Foto:)

Unsere Gesellschaft darf auf die Ideen und die Kreativität dieser jungen Menschen aber nicht verzichten - wie viele andere vermissen sie jedoch Rückhalt und glauben offensichtlich nicht mehr daran, dass sie ihre Träume und Vorstellungen in die Wirklichkeit holen können und es sich lohnt, hohe Ziele zu verfolgen.

Trennung nach ethnischer Herkunft

Die Blockade fängt schon bei Kindern an, die in den ersten, entscheidenden Jahren nicht die Betreuung und Erziehung bekommen, die ihnen zusteht. 2,5 Millionen Kinder in Deutschland leben auf Sozialhilfeniveau, sie erfahren zahlreiche Benachteiligungen. Besonders betroffen sind sie auch von Bildungsarmut, die gerade die Lebenschancen von Kindern aus sozial benachteiligten Familien erheblich einschränkt.

Die Blockade setzt sich fort in einem Schulsystem, das de facto zu früh nach sozialer und ethnischer Herkunft trennt und dessen mangelnde Qualität spätere Berufschancen systematisch verbaut. Laut Pisa-Studie sind rund 20 Prozent aller 15-Jährigen auf der niedrigsten Kompetenzstufe - jeder fünfte Jugendliche ist damit quasi ein Analphabet.

Insbesondere Türkischstämmige bleiben zu oft ohne Bildungsabschluss und berufliche Qualifikation, wie die aktuelle Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zur Lage der Integration in Deutschland belegt. Die Folgen sind nicht nur Arbeitslosigkeit, sondern auch ein Rückzug in die eigene ethnische Gruppe. "Ungenutzte Potentiale" haben die Autoren ihre Arbeit zu Recht genannt.

Menschen, die eine Bücherwand ausgleichen

Auch im Wohnzimmer meiner Eltern fehlte die Bücherwand mit dem Brockhaus, aber ich habe Lehrer erlebt, die in mir Leidenschaft und Neugierde geweckt haben. Ich hatte Eltern, die mir Nachhilfe besorgt haben, so dass ich von der Haupt- auf die Realschule wechseln konnte. Da waren die Eltern meiner deutschen Freunde, die einen Blick auch in meine Schulhefte warfen und mich sogar zu sich nach Hause zur Weihnachtsfeier einluden.

Und wenn die Großmutter mit ihrem Enkel in den Wald ging und die Natur erkundete, dann durfte auch dessen türkischer Freund mitwandern. Da waren Menschen, die die fehlende Bücherwand ausglichen, von ihnen erfuhr ich etwas über eine Welt, die ich von zuhause so nicht kannte und die mir meine Eltern auch nicht zeigen konnten.

Auf der nächsten Seite: Wo sind die guten Geister für die Kinder, die heute in Kreuzberg, Neukölln oder in anderen sogenannten Problembezirken aufwachsen?

Cems und Hülyas, Marcos und Sabrinas

Doch wo sind die guten Geister für die Kinder, die heute in Kreuzberg, Neukölln oder in anderen sogenannten Problembezirken aufwachsen? Hinzu kommt: Betrachtet man die Ergebnisse der Sprachstandsmessungen von Kleinkindern, dann brauchen nicht nur die Cems und Hülyas, sondern auch die Marcos und Sabrinas eine bildungsorientierte Mittelschichtfamilie, die sie dabei unterstützt, den Weg in die Schule und in die Mitte der Gesellschaft zu finden.

Viele Menschen haben das Gefühl, der Fahrstuhl fährt für sie immer nur nach unten. Einer Politik der Teilhabe aber muss es um realistische Aufstiegschancen gehen. Diese waren schon immer ein Motor für Ausgeschlossene und Benachteiligte, zu kämpfen und ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Eine Politik der Teilhabe muss sich auf jene Institutionen konzentrieren, in denen die Grundvoraussetzungen für die gesellschaftlichen Möglichkeiten der Menschen entschieden werden. Eine Politik der Chancengerechtigkeit, die mehr sein möchte als bloße Umverteilungspolitik, muss im Bereich der Bildung ansetzen.

Zynische These

Bildung eröffnet Menschen Chancen im beruflichen Leben und Wege zur kulturellen und auch aktiven politischen Teilhabe. Die von konservativer Seite vorgetragene These, dass Bildungspolitik die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft nicht überwinden könne, ist nicht nur zynisch, sie verschleiert auch den Kern des Problems, der durch Studien wie Pisa und Iglu hinreichend bekannt ist - die mangelnde Chancengerechtigkeit und die ungleichen Ausgangsbedingungen für Kinder aus sozial schwächeren Familien.

Unser Bildungssystem erinnert an einen 100-Meter-Lauf, bei dem die äußeren Bedingungen für alle gleich sind, alle starten zur selben Zeit, alle müssen die gleiche Strecke bewältigen - doch manche laufen mit zwei, andere jedoch nur mit einem Bein. Bildungspolitik allein kann die Ungerechtigkeiten der Gesellschaften nicht überwinden. Aber sie kann und muss den Menschen die Chance eröffnen, ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten zu können.

Vorbild Kanada

Dafür müssen wir nicht nur die Kinderbetreuungseinrichtungen für unter 3-Jährige ausbauen, wir müssen sie als Orte der Erziehung und Bildung begreifen, die es Alleinerziehenden und Eltern guten Gewissens ermöglichen, Kind und Beruf miteinander zu vereinbaren. Wir müssen aufhören, zehnjährige Kinder in verschiedene Schultypen zu sortieren oder gar auszusortieren.

Einschlägige Studien haben mehr als einmal belegt, dass die Empfehlung für die weiterführende Schule häufig nicht nur nach den Fähigkeiten der Kinder vorgenommen wird, sondern ihre soziale und ethnische Herkunft dabei eine große Rolle spielt. Ein Einwanderungsland wie Kanada zeigt, dass es bei längerem gemeinsamen Lernen, gut ausgebildeten Lehrern und einer entsprechenden Unterrichtsqualität auch in heterogenen Klassen und Schulen gelingen kann, den Einfluss der sozialen Herkunft zu minimieren.

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Musische und kulturelle Erziehung

Eine hochwertige ganztägige Betreuung ist besonders gut geeignet, ungleiche Voraussetzungen durch eine intensive individuelle Förderung der Kinder auszugleichen. Unsere Schulen müssen mehr sein als Orte, an denen "nur" Wissen vermittelt wird. Gute Schulen sind Orte, wo auch Kinder aus bildungsfernen Familien eine musische und kulturelle Erziehung erfahren, wo sie auch nachmittags von Büchern umgeben sind oder den Umgang mit Medien lernen.

Wir können das Schulsystem in Deutschland nicht von heute auf morgen revolutionieren, alle Kids in die gleiche Schule stecken und hoffen, dass als Ergebnis mehr Gerechtigkeit herauskommt. Das Ergebnis wäre vielmehr, dass noch mehr Familien als heute schon ihre Kinder auf Privatschulen schicken würden. Die Debatte um die Reform des Bildungssystems ist dann ideologisch, wenn sie einem Entweder-oder-Denken verhaftet bleibt und sich ausschließlich auf die Überwindung der frühen Trennung der Schüler oder nur auf die Verbesserung der Unterrichtsformen beschränkt.

Gute Bildungspolitik muss beides im Blick haben: sowohl Struktur als auch Qualität. Die Kinder müssen nicht nur länger gemeinsam lernen, sie müssen auch individuell gefördert werden - und selbstverständlich gilt das auch für die Hochbegabten unter ihnen. Die Abschaffung der Hauptschule allein reicht nicht, es bedarf zugleich auch einer verbesserten Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer sowie neuer Methoden des Lernens und Lehrens, die in einer entsprechenden Unterrichtsqualität münden. Das ist der einzige Weg, um sowohl Kinder aus bildungsfernen Familien zu fördern als auch das Vertrauen der Mittelschichtfamilien in unser öffentliches Schulsystem zurückzugewinnen.

Abstimmung mit den Füßen

Denn dieses Vertrauen hat gerade in den "schwierigen" Stadtteilen gelitten. Ob in Berlin-Kreuzberg oder Hamburg-Altona - sobald ihre Kinder ins schulpflichtige Alter kommen, ziehen viele Mittelschichtfamilien (ob mit oder ohne Migrationshintergrund) in andere Stadtteile, wo sie bessere Schulen vermuten, oder sie schicken ihre Kinder gleich auf eine Privatschule. Eine verantwortungsvolle Bildungspolitik muss diese Abstimmung mit den Füßen zum Anlass nehmen, gerade das öffentliche Schulsystem in Problembezirken zu stärken. Diese Schulen müssen finanziell und personell besonders gut ausgestattet werden, denn nur so kann erreicht werden, dass das Kind einer alleinerziehenden Krankenschwester, eines türkischstämmigen Arbeiters und einer Oberärztin dieselbe Schule besuchen und womöglich auch Freunde werden.

Dieser bildungspolitische Aufbruch nimmt die Eltern nicht aus der Verantwortung. Artikel 6 des Grundgesetzes regelt nicht nur das "natürliche Recht der Eltern" auf Erziehung ihrer Kinder, sondern bezeichnet diese auch als "zuvörderst ihnen obliegende Pflicht". Es heißt dort aber auch: "Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." Dieser Satz darf sich nicht darin erschöpfen, dass der Staat mit dem Finger auf jene Eltern zeigt, die mit ihren Erziehungsaufgaben überfordert sind und ihre Kinder mit dem Fernsehgerät ruhigstellen anstatt ihnen vorzulesen. Der Staat ist vielmehr auch seinerseits in der Pflicht, für ein Bildungssystem zu sorgen, das darauf ausgerichtet ist, die Potentiale und Talente jeder und jedes Einzelnen zur Entfaltung zu bringen.

© SZ vom 6.2.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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