Bildungsforscher im Interview:"Ein absurdes Theater"

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Pisa, Iglu, TIMSS - Deutschland nimmt an jeder Bildungsstudie teil. Das ist teuer - und bringt wenig, sagt der Bildungsforscher Hans Brügelmann.

J. Bönisch

Am heutigen Dienstag sind die Ergebnisse der "Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung", kurz Iglu, bekanntgegeben worden. Viertklässler aus Thüringen können demnach am besten lesen und Texte verstehen und liegen damit auch im internationalen Vergleich im Spitzenfeld.

Deutschunterricht in der Grundschule: Die Leseleistungen der Schüler können sich sehen lassen. In Mathematik schneiden sie dagegen nicht so gut ab. (Foto: Foto: dpa)

Am Nachmittag werden zudem die Resultate der Schulstudie TIMSS (Trends in International Mathematics and Science Study) vorgestellt: Deutschland belegt im internationalen Vergleich Platz zwölf und liegt damit hinter Hongkong, Singapur und Kasachstan. Der Erziehungswissenschaftler Hans Brügelmann von der Universität Siegen beschäftigt sich seit Jahren mit den verschiedenen Bildungsstudien und berät Bildungspolitiker.

sueddeutsche.de: Herr Brügelmann, "Lesen können wir ganz gut, aber in Mathe liegt Deutschland hinter Kasachstan" - dieser Satz scheint alles zu sein, was von den aktuellen Bildungsstudien hängenbleiben wird. Ist das gerecht?

Hans Brügelmann: Nein, solche Verkürzungen sind nicht gerecht. Wir sollten uns schon die komplette Liste der mathematisch-naturwissenschaftlichen Ergebnisse anschauen: Deutschland liegt auf Platz zwölf von insgesamt 40 Teilnehmerstaaten und damit deutlich über dem Durchschnitt - das ist wirklich ein ordentliches Ergebnis.

sueddeutsche.de: Können wir uns also zurücklehnen und zufrieden sein?

Brügelmann: Nein, aber wir können uns endlich um das Wesentliche kümmern. Solche Ranglisten sind doch in ihrer Aussagekraft beschränkt. Ein Unterschied von wenigen Aufgaben wird leicht zu einem Lernunterschied eines kompletten Schuljahres stilisiert. Studien wie TIMSS, Iglu und Pisa geben nur Warnsignale. Lägen wir im unteren Drittel, müssten wir uns ernsthaft Gedanken über unser System machen. So aber können wir uns ganz auf die Arbeit vor Ort konzentrieren und brauchen uns keinen Druck machen, bei der nächsten Untersuchung zwei oder drei Rangplätze aufholen zu müssen.

sueddeutsche.de: Aber man fragt sich schon, wie es sein kann, dass etwa Hongkong und Singapur in Mathematik ganze zwei Jahre Vorsprung vor den deutschen Schülern haben.

Brügelmann: Das ist eigentlich ganz einfach zu erklären: Dort besteht ein ganz anderes Schulsystem. In Asien gehen die Kinder häufig auf Ganztagsschulen und besuchen abends zusätzlich teure Privatschulen. Man setzt auf ein hartes Training für die Elite. In Deutschland gibt es weniger Drill, es geht offener, kreativer - Kritiker sagen auch schlampiger - zu. Zudem kann man Schüler gezielt auf den Aufgabenstil solcher Tests vorbereiten. Eine gute Platzierung bei solchen Untersuchungen ist nicht automatisch ein Kennzeichen von Unterrichtsqualität.

sueddeutsche.de: Auffällig ist aber, dass Deutschland in der Grundschulstudie Iglu regelmäßig besser abschneidet als bei Pisa, wenn Schüler weiterführender Schulen untersucht werden.

Brügelmann: Ja, die Grundschule schneidet im internationalen Vergleich besser ab als die Sekundarstufe. Die Schere zwischen Leistungsstarken und -schwachen ist geringer, der Anteil der Kinder mit besonderen Schwierigkeiten ist nur halb so groß. Auch Migrantenkinder und Kinder aus unteren sozialen Schichten werden besser gefördert. Für das Gerede von der "Kuschelpädagogik" besteht also auch nach Iglu kein Anlass.

Auf der nächsten Seite: Was zwischen der vierten und der neunten Kalsse schiefläuft - und warum viele Schlüsse aus den Bildungsstudien unzulässig sind.

sueddeutsche.de: In der Grundschule ist also noch alles in Ordnung, in den weiterführenden Schulen sacken die Jugendlichen plötzlich ab. Was läuft denn zwischen der vierten und der achten oder neunten Klasse schief?

Bildungsforscher Hans Brügelmann: "Das Geld für Iglu, Pisa und TIMSS könnte man viel sinnvoller einsetzen. (Foto: Foto: oH)

Brügelmann: Die deutsche Grundschule ist - abgesehen von den Sonderschulen - eine Gesamtschule, danach haben wir ein dreigliedriges Schulsystem mit Haupt-, Realschule und Gymnasium. Daraus schließen viele, dass die Aufteilung der Kinder auf die verschiedenen Schultypen zum schlechteren Abschneiden beiträgt. Das scheinen die länderübergreifenden Studien zu bestätigen: Dort schneiden Länder wie Finnland, wo Kinder besonders lange gemeinsam unterrichtet werden, sehr gut ab. Betrachtet man jedoch die Bundesländervergleiche, liegen regelmäßig Bayern und Baden-Württemberg vorn. Sie setzen stark auf eine Aufteilung und das dreigliedrige Schulsystem und können damit auch im internationalen Vergleich punkten.

sueddeutsche.de: Welchen Schluss muss man daraus ziehen?

Brügelmann: Das ist das Problem: Man kann aus diesen Daten offensichtlich keine einfachen Schlüsse ziehen. Die Untersuchungseinheiten sind zu global. Wir müssen uns damit abfinden, dass solche Studien nur eine sehr begrenzte Aussagekraft besitzen. Wir wissen einfach nicht genau, warum bestimmte Länder besser abschneiden als andere. Kaum wird eine Studie veröffentlicht, vereinnahmen die verschiedenen Lobbygruppen einzelne Zahlen für sich und setzen sie mit anderen Werten in Verbindung, ohne den Zusammenhang beweisen zu können.

sueddeutsche.de: Haben Sie dafür ein Beispiel?

Brügelmann: Schneiden die ostdeutschen Länder besser ab, heißt es, das läge an ihrem geringen Migrantenanteil. Es könnte aber genauso gut daran liegen, dass die Kinder dort in kleineren Klassen unterrichtet werden. Oder dass es dort viel mehr Sonderschüler gibt und so die besonders schwachen Kinder gar nicht mitgetestet werden. Oder dass es dort mehr Stunden für einzelne Fächer gibt. Es könnte viele Gründe für dieses Ergebnis geben, doch die Studien verraten uns nicht, welche das sind. Wir können immer nur mutmaßen. Deshalb ist die Diskussion nach der Veröffentlichung solcher Tests ein absurdes Theater.

sueddeutsche.de: Das heißt, wir testen ohne zu wissen, was wir mit den Ergebnissen anfangen können?

Brügelmann: Im Prinzip ja. Die Studien können uns nur auf Problembereiche aufmerksam machen. Deren genaue Untersuchung kann nur in Längsschnittuntersuchungen und kontextbezogen erfolgen.

sueddeutsche.de: Sollten wir auf Studien wie TIMSS und Iglu komplett verzichten?

Brügelmann: Nein, aber es genügt, sie seltener durchzuführen. Alle fünf Jahre eine Studie - das reicht vollkommen, um Trends zu erkennen. Solche Untersuchungen kosten Zeit und Geld, diese Ressourcen könnte man viel sinnvoller einsetzen. Wir sollten uns einzelne erfolgreiche Schulen genauer anschauen und untersuchen, was dort richtig gemacht wird. Es gibt nämlich sehr erfolgreiche Gesamtschulen genauso wie furchtbare Gymnasien und umgekehrt. Zudem müssen Lehrer den richtigen Umgang mit Testergebnissen lernen: Hinter der gleichen Punktzahl zweier Schüler können sich völlig verschiedene Profile verbergen. Sie müssen lernen, das zu erkennen, um die Schüler dann individuell fördern zu können.

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