Bildung und Integration:Wo Schule zur Heimat wird

Sprachunterricht und Einzelbetreuung: Die Bildungsangebote in Toronto sind ein Vorbild für Integration - doch auch hier gelingt dies nur unter größter Anstrengung.

B. Calonego

Unter den kahlen Wohntürmen der Vorstadt wirkt die Forest-Manor-Schule wie eine Oase. An den Wänden der Eingangshalle hängen bunte Turnschuhe aus Papier, mittendrin ein Plakat: "Torontos Schulen in Bewegung". Auf den Fluren schwirren Kinder von Zimmer zu Zimmer, für einen Betrieb mit 660 Grundschülern ist es trotzdem erstaunlich ruhig.

Grundschule in Toronto, dpa

Schulen in Toronto: Intensive Betreuung soll die Integration ausländischer Schüler erleichtern.

(Foto: Foto: dpa)

Die Vorstadt North York ist für viele Einwanderer die erste Station in Toronto. In der Forest-Manor-Schule können ihre Kinder auf eine gute Zukunft hoffen: Dieser Schule, aber auch anderen in der größten Stadt Kanadas, gelingt es vorbildlich, Migranten zu integrieren. Im Gegensatz zu deutschen Schulen haben sie dort fast genauso gute Bildungschancen wie Einheimische. Deshalb hat Torontos Schulbehörde kürzlich den Carl-Bertelsmann-Preis für die weltweit besten Integrationserfolge erhalten.

Ansprechpartner für Familien

"Wir sehen die kulturelle Vielfalt nicht als Problem, sondern als Stärke", sagt der Chefbeamte Lloyd McKell in seinem Büro in North York. "Wir sind bereit, Ressourcen und Geld für Schüler einzusetzen, die sonst nicht die Möglichkeit hätten, als Kanadier erfolgreich zu sein."

Das verläuft auch in Toronto nicht immer problemlos. McKell, der in Trinidad geboren wurde, will die Zahl jener senken, die vor dem Abschluss die Schule abbrechen. In manchen Bevölkerungsgruppen sind es 40 bis 50Prozent. Torontos Losung: "Wir bestrafen nicht, wir kommen ihnen entgegen", sagt McKell. Sozialarbeiter als Ansprechpartner für Familien und ein Unterricht, der jedem Schüler so viel individuelle Förderung wie nötig zukommen lässt, gehören an vielen Schulen zum Standardprogramm.

Mit dem Sprachunterricht fängt alles an. Die Tür zu Darlene Hindleys Klassenzimmer steht offen. Unter den elf Kindern, die um die Lehrerin herum auf dem Teppich sitzen, ist nur ein einziges weißes Gesicht. "Die grüne Maus", spricht Hindley vor, und die Kinder rufen im Chor "geht am Donnerstag". Ein Junge schweigt, hängt aber an den Lippen der Lehrerin. Der achtjährige Stephen Guo aus China ist gerade erst in Kanada angekommen.

Überlebensvokabular für Neuankömmlinge

Für die Forest-Manor-Schule ist das Alltag. Etwa drei Viertel der Schüler hier sind Kinder von Einwanderern, sie kommen aus 39 Ländern. Neulinge wie Stephen Guo erhalten täglich eine Stunde Intensivunterricht auf Englisch. "Wir bringen ihnen zuerst ein Überlebensvokabular bei", sagt Darlene Hindley. "Sie sollen ihre Adresse und Telefonnummer kennen, das Alphabet, Farben, Körperteile, Familienmitglieder, Dinge im Haus und was im Pass steht."

Nur eine Tür weiter liegt ein kleines Zimmer für den Einzelunterricht im Lesen. Eine siebenjährige Schülerin aus Asien liest nacheinander die großen Buchstaben an einer Magnettafel vor. Die Lehrerin lobt sie für jeden kleinen Erfolg.

In Torontos Schulen wird diese individuelle Lernunterstützung von der Provinz Ontario finanziert. Sie gibt den Schulen Zuschüsse für ihre Förderangebote: Je mehr Zuwanderer sie aufnehmen, umso mehr Geld erhalten sie. In Deutschland müssen Schulen mit vielen Migrantenkindern dagegen oft mit dem gleichen Geld auskommen wie andere.

Auf der nächsten Seite: Warum Lehrer mit ausländischer Herkunft hilfreich sind.

Wo Schule zur Heimat wird

Der achtjährige Anhar liest in einem Bilderbuch mit arabischen Texten, die englische Übersetzung steht direkt daneben. Solche Bücher gibt es an der Forest-Manor-Schule in fast jeder erdenklichen Sprache. Das ist selbst in Toronto nicht selbstverständlich. Die Schule konnte sich das nur leisten, weil sie als Modellschule einen Sonderzuschuss der Provinz in der Höhe von etwa 60.0000 Euro erhalten hat.

Fachkräfte für einzelne Schüler

Mit diesem Geld kann sie auch mehr Fachkräfte finanzieren. So ist die Lehrerin Hanna Davidson an diesem Morgen nicht die einzige Erwachsene im Klassenzimmer. Eine Beschäftigungstherapeutin ist hier, um einen autistischen Jungen zu beobachten. An einem der runden weißen Tische sitzt auch eine Sprachlehrerin.

Und eine Lehrassistentin kümmert sich ausschließlich um Stone, einen aus China stammenden Jungen mit Verhaltensproblemen. Zusätzlich hilft eine Sozialarbeiterin Stones Familie. Alle sechzehn Schüler dieser Klasse gehören ethnischen Minderheiten an.

Schulleiterin Debbie Smith, die einen Rundgang macht, kennt fast jedes Kind beim Namen. Vor allem vergisst sie keines, das auf der "Risiko-Liste" steht: Das sind Schüler wie Stone, die zweimal im Monat im Lehrerkollegium besprochen werden, um die beste Förderung für sie zu finden. Stone kommt den Korridor entlanggeschlendert. "Das machst du schon viel besser", lobt ihn die Schulleiterin, "früher bist du immer gerannt."

Stone drückt sich wortlos an ihr vorbei. Lehrerin Hanna Davidson korrigiert ihn sanft: "Schau Frau Smith an, sie hat dir soeben ein Kompliment gemacht." In der Forest-Manor-Schule wird stets auch soziales Verhalten geübt. Das ist nicht immer leicht. Manche Kinder stammen aus Kulturen, in denen direkter Augenkontakt vermieden wird, sagt die in Jamaica geborene Lehrerin Andrea Francis. In anderen Familien verstoße Singen oder Tanzen gegen die Religion.

"Wir versuchen, allen Religionen und Bräuchen entgegenzukommen." Die Kinder sollen stolz auf ihre Herkunft sein. Es hilft, dass einige Lehrer aus Korea, Serbien, China oder Iran stammen. "Wir kennen die Situation der Kinder aus eigener Erfahrung", sagt Andrea Francis.

Auf dem Sofa in der Eingangshalle warten in der Mittagspause drei Mädchen, eines mit Kopftuch, während die anderen Schüler in der Turnhalle zu Mittag essen. Debbie Smith plaudert kurz mit dem Trio. Später, auf dem sauber gewischten Schulhof, deutet sie auf eines der grauen Wohnsilos in der Nähe. Debbie Smith hat dort Familien besucht und deren Armut kennengelernt: In den Wohnungen stehen anstelle von Möbeln nur Kisten, vor den Fenstern hängen Tücher.

Umzüge erschweren die Integration

Sobald die Neuankömmlinge ein bisschen Geld gespart haben, ziehen sie meist in ein besseres Stadtviertel. Der ständige Wechsel erschwert die Bemühungen um die Integration der Familien, bedauert Smith. Die Forest-Manor-Schule soll eine erste Anlaufstelle für Eltern und Kinder sein. Dolmetscher in 13 Sprachen stehen für sie bereit. Neben dem Lehrerzimmer haben zwei settlement workers ihr Büro, das sind vom kanadischen Immigrationsministerium bezahlte Helfer für das Einleben in Kanada.

Eine junge Frau mit Kinderwagen kommt lächelnd auf die Schulleiterin zu, Aliya Rizva aus Pakistan. Zwei ihrer Kinder besuchen die Forest-Manor-Schule, aber auch die Mutter kommt gerne hierher. "Ich kann mit den Lehrern über alles reden", sagt Aliya Rizva. Sie fühle sich wohl in der Schule. "Es ist wie ein Zuhause."

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