Bildung:"Das Gymnasium ist eine Schule für Professorenkinder"

Zeigen die Reformen nach dem Pisa-Schock schon Wirkung? Ein Gespräch mit dem Bildungsforscher Klaus Hurrelmann.

Julia Bönisch

sueddeutsche.de: In der Iglu-Studie zur Lesekompetenz von Grundschülern hat Deutschland gut abgeschnitten, auch die Pisa-Ergebnisse, soweit sie schon bekannt sind, deuten darauf hin, dass sich deutsche Jugendliche verbessert haben. Müssen wir uns um die deutsche Bildung keine Sorgen mehr machen?

Klaus Hurrelmann

Bildungsforscher Klaus Hurrelmann.

(Foto: Foto: dpa)

Klaus Hurrelmann: Nein, aber wir können uns trotzdem über jeden Millimeter Erfolg freuen. Die Grundschulstudie zeigt, dass wir uns in einem wesentlichen Leistungsbereich, dem Lesen, verbessert haben. Lesen ist die Schlüsselkompetenz schlechthin. Das ist ein tolles Ergebnis, das hoffen lässt. Auch die Pisa-Ergebnisse deuten darauf hin, dass wir uns nicht verschlechtert haben. Psychologisch ist das sehr wichtig. Die nach der letzten Pisa-Studie eingeleiteten Schritte - so zaghaft ich sie auch finde - gehen offensichtlich in die richtige Richtung. Aber wir müssen natürlich weiter ehrgeizig sein. Wir sind ein führendes Industrieland und darauf angewiesen, dass wir gute Schulen haben.

sueddeutsche.de: Erst vor drei Jahren wurde eine Pisa-Studie veröffentlicht. Können sich in so kurzer Zeit überhaupt messbare Verbesserungen ergeben? Hurrelmann: Das kann man im Moment noch nicht sagen, weil es sehr schwer ist, das methodisch genauer einzuschätzen. Aber die letzte Untersuchung war nun wirklich eine sehr große Enttäuschung. Keiner war auf dieses sehr mittelmäßige Abschneiden vorbereitet. Insofern tun die neuen Ergebnisse jetzt allen Beteiligten gut, vor allem den Lehrkräften. Die sind vollkommen zu Unrecht sehr stark unter Druck geraten.

sueddeutsche.de: Die miesen Ergebnisse hatten eine heilsame Wirkung?

Hurrelmann: Ja, damals sind sich alle bewusst geworden, dass es so nicht reicht. Die eigentlichen Effekte treten zwar langsam ein, aber das Umdenken kam schnell. Wir spüren hier diesen mentalen Ruck.

sueddeutsche.de: Einige Länder, Schweden etwa, sind von einer guten Position abgerutscht - weil es dort dieses Schockerlebnis nicht gab?

Hurrelmann: Hier ist vielleicht ein Trägheitseffekt eingetreten. Wenn man wunderbar abschneidet, fühlt man sich nicht herausgefordert.

sueddeutsche.de: Auch wenn die Ergebnisse von Iglu und Pisa gut sind - welche Lehren sollten wir aus den Studien ziehen?

Hurrelmann: Deutschland ist immer noch schlecht, was das sozialen Gefälle betrifft. Wir schöpfen das Potenzial der starken Schüler aus ungünstigen sozialen Elternhäusern nicht aus. Wir lassen Bildungsreserven unbeachtet, und das ist ethisch nicht in Ordnung. Das ist auch wirtschaftlich fatal und fahrlässig. Wir arbeiten immer noch unter falschen pädagogischen Prämissen, die wir dringend verändern müssen.

sueddeutsche.de : Falsche pädagogische Prämissen?

"Das Gymnasium ist eine Schule für Professorenkinder"

Hurrelmann: Wer in die deutsche Schule als Institutionen hinein will, muss bestimmte Voraussetzungen erfüllen, sonst wird er nicht zugelassen. Das zwingt alle Lehrkräfte dazu, dass sie in einem falschen Rhythmus arbeiten und unterstellen, sie hätten eine nach Leistungsstand homogene Schülergruppe vor sich, mit der sie auf eine bestimmte Weise arbeiten können. Mit so einer Haltung blockiert man die Lehrer geradezu, auf einzelne Kinder individuell zuzugehen. Doch das kann man den Lehrern nicht vorwerfen. Sie können nicht mehr darauf achten, welcher Schüler zu ihnen kommt. Wo steht denn diese kleine Persönlichkeit, was kann sie schon, was kann sie nicht und wie muss ich sie weiterentwickeln? Solche Fragen spielen bei uns eine viel zu geringe Rolle. Wir müssen ein System schaffen, in der sich die Schule auf die Schüler zubewegt, nicht umgekehrt.

sueddeutsche.de: Wie sollte das System Ihrer Meinung nach denn aussehen?

Hurrelmann: Bei uns wirkt sich die soziale Herkunft stark auf den Erfolg der Kinder aus. Die Kinder müssen sich im Grunde schon in der dritten Klasse der Grundschule fragen, wie es bei ihnen weitergeht. Sie müssen sich fragen, was sie sich zutrauen, wo sie hinwollen, was für Chancen sie haben. Dabei sind die Schulformen Ikonen, an denen sich die Schüler orientieren. Eltern und Kinder haben das Gymnasium vor Augen - diese Schule für Professoren und Rechtsanwälte. Da trauen sie sich nicht hinein, wenn ihre eigene soziale Konstellation ganz anders ist. Deshalb schneiden die Schüler in der Iglu-Studie besser ab als bei Pisa: In der Grundschule hat diese soziale Aufteilung noch nicht stattgefunden.

sueddeutsche.de: Eine Lösung wäre für Sie also eine Schule für alle?

Hurrelmann: Ich bin dafür, dass man die Vielgliedrigkeit mit Augenmaß abbaut. Eine Einheitsschule ab dem 1.1.2008 ist für ganz Deutschland politisch nicht durchzusetzen. Das entspricht auch nicht dem Elternwunsch. Aber man kann schrittweise dafür sorgen, dass wir nicht mehr drei, vier oder sogar fünf unterschiedliche Schulformen haben. Die Entscheidung des Landes Hamburg ist hier wegweisend, die Schulformen Haupt-, Real- und Gesamtschule zusammenzufügen und dadurch wenigsten schon mal eine Zweiklassen-Gesellschaft zu schaffen, und nicht wie heute eine drei- oder Vierklassengesellschaft.

sueddeutsche.de: Würde eine solche Einheitsschule langfristig gegenüber dem Gymnasium nicht auch verlieren?

Hurrelmann: Nein. Wenn diese Schulform neben dem Gymnasium eine eigene Oberstufe hat, in der man jeden Abschluss machen kann, dann nicht. Eine solche Schule muss zugleich modern, projektorientiert und wissenschaftsbasiert arbeiten, aber gleichzeitig eine anwendungsbezogene Pädagogik betreiben. Sie sollte nicht abstrakt nach wissenschaftlichen Disziplinen vorgehen wie es typisch für das Gymnasium ist. Dann ist diese Schule eine Chance für bildungsferne Elternhäuser. Und sie besitzt ein so spannendes pädagogisches Konzept, dass sie schließlich auch für andere Elternhäuser attraktiv ist.

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