Berufswahl:"Mädchen sollten dahin kommen, sich jeden Beruf zuzutrauen"

Jedes Jahr entscheiden sich zehntausende Schülerinnen für einen typischen Frauenberuf, und damit für weniger Geld und schlechte Aufstiegschancen. Warum das so ist - ein Interview.

In Deutschland wählen vor allem Jungs Technik-Berufe. Nicola Holzapfel fragte Ursula Nissen, Leiterin des Wissenschaftlichen Referats beim Vorstand am Deutschen Jugendinstitut München, warum die Mädchen außen vor bleiben.

sueddeutsche.de: Bei den beliebtesten Ausbildungsberufen von Schülerinnen ist kein einziger Technik-Beruf dabei, stattdessen haben seit Jahren Arzthelferin und Bürokauffrau einen festen Platz in den Top Ten. Warum bewegt sich da nichts?

Ursula Nissen: Es gibt mittlerweile schon mehr Frauen in Technikberufen. Aber die Veränderungen sind minimal.

sueddeutsche.de: Was versteht man eigentlich unter einem "Frauenberuf"?

Nissen: Als typische Frauenberufe gelten zum Beispiel Krankenschwester oder Erzieherin. In der Statistik heißen sie "weiblich dominierte Berufe", das heißt es gibt zwischen 80 und 100 Prozent weibliche Auszubildende.

Diese Berufe gelten als familiennah, weil man hier soziale Kompetenzen einsetzen kann, die man auch in der Familie braucht. Sie weisen häufig ein entsprechend diffuses Tätigkeitsprofil auf. Viele junge Mädchen ergreifen diese Berufe mit der Begründung, sie könnten dann Arbeit und Familie besser vereinbaren. Dabei ist das in diesen Berufen gerade nicht der Fall. Die Technikberufe sind zum Beispiel sehr viel familien- und arbeitszeitfreundlicher als die Berufe in der Krankenpflege oder im Handel. Und Frauenberufe sind sehr häufig Sackgassenberufe: Es ist kein Aufstieg möglich. Wer einmal Arzthelferin geworden ist, bleibt es auch. Die gesellschaftliche Bewertung dieser Berufe hört man ihnen geradezu an: Frauenberufe sind die "Helferinnen"- und "Assistenz"-Berufe. Kein Geselle würde sich als Assistent von einem Ingenieur bezeichnen.

sueddeutsche.de: Warum wählen Frauen bei all diesen Nachteilen diese Berufe dann überhaupt?

Nissen: Junge Frauen haben wenig Wissen über die tatsächliche Berufsrealität und ihre Aufstiegschancen. Außerdem ist bei uns in der Bundesrepublik der gesellschaftliche Druck sehr hoch, dass die Frau einen Beruf haben sollte, der dem Geschlechtsrollenbild entspricht - in anderen europäischen Ländern ist man da viel weiter. Und das beeinflusst die jungen Mädchen. Man weiß, dass in der Grundschule die Interessen bei beiden Geschlechtern noch ziemlich gleich sind. In dem Moment, in dem die Mädchen in die Adoleszenzphase kommen, schwindet auf einmal das Interesse an Technik und technischen Berufen.

sueddeutsche.de: Wie könnte man die Mädchen wieder für technische Berufe interessieren?

Nissen: Die Berufswahl erfolgt nicht zu einem einzigen Zeitpunkt. Es ist ja nicht so, dass die Mädchen die Schule abschließen und sich fragen "Oh, was werd' ich denn?". Einer Berufswahl geht die Berufsfindung voraus und die fängt schon im Kindergarten an. In diesem Prozess spielen die Eltern eine ganz große Rolle. Und zwar durch das, was sie ihren Kindern vorleben und durch das, was sie implizit an Geschlechtsrollenbildern vermitteln. Viele Eltern sind der Meinung, das Mädchen in techniknahen Berufen durchaus Chancen haben, glauben allerdings, dass das für ihre eigene Tochter nicht zutrifft. Für die Berufsberatung heißt das, dass sie unbedingt den familiären Hintergrund miteinbeziehen und schauen müsste, welchen Einfluss hatten denn die Eltern auf das, was die Mädchen dort als Berufswunsch vortragen.

sueddeutsche.de: Die Berater müssen also den Berufswunsch hinterfragen?

Nissen: Ja. Und sie müssen natürlich die subjektiven Befindlichkeiten der jungen Frauen berücksichtigen. Zum Beispiel gibt es durchaus junge Frauen, bei denen in ihrer Lebensplanung der Beruf und nicht die Familie und noch nicht einmal die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Vordergrund steht. In der Berufsberatung wird jedoch in der Regel unterstellt, dass Frauen diese Vereinbarkeit wünschen, anstatt erst einmal herauszufinden, ob das überhaupt so ist.

sueddeutsche.de: Was ist mit der Schule?

Nissen: Die spielt natürlich eine ganz große Rolle. Mädchen unterschätzen ihre Fähigkeiten in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern immer noch. Sie glauben, die Jungs wären besser. In diesen Fächern und immer da, wo es um Computer und Internet geht, bräuchten die Mädchen einen mono-edukativen Unterricht. Und zwar solange bis sie selbstbewusst genug sind, dass sie diese Geschlechterdifferenz überhaupt nicht mehr wahrnehmen.

sueddeutsche.de: Und dann werden wir mehr Technikerinnen haben?

Nissen: Frauen in techniknahe Berufe zu bringen, kann ja kein Ziel an sich sein. Die Frauen, die diese Berufe erlernen, müssen später auch Entwicklungs- und Aufstiegschancen haben. Mädchen sollten dahin kommen, sich jeden Beruf zuzutrauen. Sie sollten aus ihrer subjektiven Motivation heraus entscheiden, welcher Beruf für sie geeignet und realistisch und zukunftsträchtig ist. Und dann ist es nicht mehr so wichtig, ob das ein technischer Beruf ist oder ein Dienstleistungsberuf. Die Frage ist doch auch immer, ob die gesellschaftliche Bewertung des Berufes so bleibt wie sie ist, wenn mehr Mädchen oder mehr Männer in das andere Berufsfeld reingehen.

sueddeutsche.de: Könnte es denn sein, dass die Bewertung abnimmt, wenn mehr Frauen in einen "Männerberuf" drängen?

Nissen: Durchaus.

(sueddeutsche.de)

Von Ursula Nissen ist im Verlag Leske + Budrich das Buch "Berufsfindungsprozesse von Mädchen und jungen Frauen" erschienen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: