Berufsunfähigkeit:Eine Brücke zurück ins Büro

Sie wollen immer mehr leisten, doch plötzlich geht die Kraft aus - wie psychisch Kranke nach dem Zusammenbruch wieder in die Arbeitswelt finden.

Caspar Dohmen

Sie hatte sich von der Bürokauffrau zur Unternehmensberaterin hochgearbeitet und führte ein abwechslungsreiches Leben zwischen Düsseldorf, Berlin und Hamburg. Sie lebte mit einem Mann, den sie damals noch geliebt hat, in einem schönen Haus mit Garten in Rheinberg. Petra Weber (Name geändert) genoss das rastlose Leben und empfand ihren schonungslosen Arbeitseinsatz als notwendiges Elixier für den beruflichen Erfolg.

Krankenhausflur

Psychisch Kranke wie Petra Weber lassen sich in Kliniken behandeln.

(Foto: Foto: ddp)

"Alles hätte toll sein können", sagt die 40-Jährige heute und knetet dabei bedächtig ihre schmalen Hände, "und dann bildeten sich Risse in meiner Seele." Dieses Alarmzeichen aber ignorierte sie und arbeitete noch mehr und noch schneller. Nach Feierabend machte sie die Ausbildung zur Betriebswirtin. Sie bekam Lob von ihren Chefs. Sie wurde befördert. Dabei sagte sie sich die ganze Zeit: "Ich kann nichts, ich schaffe nichts, ich täusche alle."

Sie wurde dann immer häufiger ohne ersichtlichen Grund traurig. Morgens lag sie im Bett und merkte, wie ihr eiserner Wille den Kampf gegen ihre schwermütige Seele verlor. An solchen Tagen schaffte sie es häufig nicht ins Büro. Es gab Momente, da sehnte sie sich nach dem Tod.

Sie sprang in ihren Träumen von Hochhäusern, doch sie kam nie unten an, sondern sah sich immer wieder, wie sie erneut die Treppen hinaufstürmte, um sich ein weiteres Mal in die Tiefe zu stürzen. 2002 brach Petra Weber schließlich zusammen, da war sie 35 Jahre alt. Sie hatte sich damals schon länger ganz in Schwarz gekleidet und trug ein Nasenpiercing und viele silberne Ringe.

Verloren im Weltraum

"Ungläubig", wie sie sagt, hörte sie die Diagnose. Die Ärzte sprachen von einer "emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Typ Borderline". Und dieser Befund katapultierte Petra Weber aus ihrem Karrierefilm. Sie schrieb in ihr Tagebuch: "Ich habe eine Szene aus einem Film vor Augen, wo ein Astronaut aus seiner Raumkapsel aussteigt, um sie von außen zu reparieren, als sich plötzlich sein Verbindungsteil zur Kapsel löst und er langsam aber stetig von ihr fortgetrieben wird." Die Ärzte wiesen sie in eine Klinik ein, dort blieb sie zehn Wochen.

"Arbeit strukturiert meinen Tag, ohne würde ich schnell tief abstürzen", sagte sich die zierliche Frau damals, doch sie sah nach der Klinik keinen Rückweg in die Arbeitswelt. Da erzählte ihr eine Freundin von den Berufstrainingszentren (BTZ). Eine der bundesweit 13 Einrichtungen gibt es in einem alten Kontorhaus im Duisburger Innenhafen. Die dort arbeitenden Psychologen, Sozialpädagogen und Praxisanleiter versuchen, den Kranken eine Brücke zurück in die Arbeitswelt zu bauen.

Ein Jahr dauert das Programm, an dessen Ende die Probearbeit in einem Betrieb vorgesehen ist. Die Trainingszentren entstanden nach der Psychiatrie-Enquête, mit der die deutsche Politik vor 32 Jahren die Weichen für einen Wechsel von einer verwahrenden zu einer therapeutischen Versorgung psychisch Kranker stellte.

Der Bedarf ist gestiegen, immer häufiger fallen Menschen wegen psychischer Erkrankungen aus dem Arbeitsleben. Jeder vierte Bürger in der Europäischen Union wird im Laufe seines Lebens depressiv, schizophren, zwanghaft, panisch oder sonst irgendwie psychisch krank. Allein in Deutschland sind die Fehlzeiten durch solche Erkrankungen in den vergangenen zehn Jahren um nahezu 70 Prozent gestiegen.

Die Kosten schätzt der European Brain Council für die EU-Länder auf jährlich fast 300 Milliarden Euro. Erkranken Arbeitnehmer, dann springen in Deutschland die Rentenversicherungsträger oder die Arbeitsagentur ein. Deren Ausgaben sinken, wenn sie möglichst viele psychisch Erkrankte wieder zurück ins Arbeitsleben bringen.

Wiederbelebung des Selbstbewusstseins

Als Schlüssel für die Rückkehr in die Arbeitswelt sieht der Duisburger BTZ-Leiter Karl-Heinz Treude die Wiederbelebung des Selbstbewusstseins, das bei den Erkrankten meistens völlig ramponiert sei. Zufriedenheit, sagt er, erlangen Menschen weniger mit Dingen als mit Aktivitäten. Viele kleine Arbeitserfolge seien notwendig, damit Menschen wieder normal agieren könnten. Am Anfang durchlaufen die Teilnehmer deshalb ein Grundtraining, bei dem ihre Konzentration und Belastbarkeit getestet werden. So können sie zum Beispiel Möbel bauen, um dadurch die eigenen Fähigkeiten wiederzuentdecken.

In der Großküche, der Kantine, den Werkstätten, der Druckerei oder den Büroarbeitsplätzen können sich die Teilnehmer wieder fitmachen für eine spätere Rückkehr in ihren alten Beruf oder sie bereiten sich auf eine Umschulung vor. In all diesen Arbeitswelten wird versucht, Zeitdruck und den Umgang mit Kunden real zu trainieren. Zum Beispiel, indem jeden Mittag rund 400 Essen pünktlich fertiggekocht sein müssen.

Jeden Dienstag um 13 Uhr schauen die Neuen vorbei, diesmal sind es 14 Frauen und Männer, Junge und Ältere, Akademiker und Arbeiter, die sich an die weißen Tische setzen und warten, auf dem Kugelschreiber kauen, mit Formularen spielen, Kaffee trinken oder schweigen. Während des Vortrags von Ralf Limbeck, einem Psychologen, tauen sie langsam auf und beginnen, zunächst zaghaft, dann immer selbstbewusster zu fragen. Zum Beispiel, ob es nicht hinderlich sei, wenn sie als Absolventen des BTZ ewig als psychisch Kranke abgestempelt seien oder ob sie diesen Lebensabschnitt bei Vorstellungsgesprächen verschweigen könnten.

Limbeck antwortet ruhig, nein, sie müssten dies nicht angeben, sie sollten sich aber überlegen, ob es nicht besser wäre. Am Ende verweist er die Teilnehmer auf die Einzelgespräche mit den Psychologen, bei denen geklärt werden soll, ob der Besuch des BTZ tatsächlich die gewünschte Hilfe bringen könnte.

Was sind die Gründe für Arbeitsunfähigkeit? Lesen Sie mehr.

Eine Brücke zurück ins Büro

Die Psychologin Birgitt Beuse erinnert sich noch an Petra Weber, an den immensen inneren Druck im Einzelgespräch, an den Zweifel der damals 36-Jährigen, ob sie schon reif für die Eingliederungsmaßnahme der beruflichen Rehabilitation sei. Die Psychologin schlug ihr deshalb eine viermonatige Schnupperphase vor. Petra Weber bemühte sich zwar, aber sie verstand nicht, was die Betreuer ihr eigentlich vermitteln wollten. Immer wieder kreiste derselbe Gedanke in ihrem Kopf: "Ich muss bis zum Umfallen arbeiten, sonst bin ich nicht gut genug. Wenn ich so werde, wie die Betreuer das wollen, dann habe ich draußen auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr."

So schuftete sie weiter, statt Pausen machte sie Überstunden. Gleichzeitig kroch das Gefühl hoch, "ich schaff das nicht - oh Gott, oh Gott, ich sitze im Mauseloch." Dann war die Schnupperphase vorbei und Weber keinen Schritt vorwärts gekommen. Die Psychologin empfahl ihr die Rückkehr in eine Klinik. "Entweder fahre ich am Dienstag in die Klinik...oder in der Nacht auf Dienstag zur Brücke", vertraute Petra Weber in dieser Nacht ihrem Tagebuch an.

Angst geht um

Zwar werden die Neurosen des Alltags schon seit Jahrzehnten dargestellt, beispielsweise in den Filmen von Woody Allen, und längst betrachtet mancher den Besuch beim Therapeuten als Teil seines modernen Lebensstils. Aber in der Arbeitswelt gelten psychische Krankheiten häufig als Tabu. Dabei gibt es seit zehn Jahren das europäische Arbeitsschutzgesetz, mit dem psychischen Erkrankungen am Arbeitsplatz vorgebeugt werden soll.

Allerdings hat der Druck auf die Beschäftigten angesichts des globalen Wettbewerbs und der gestiegenen Gewinnerwartungen zugenommen. So müssen die Beschäftigten in kürzerer Zeit mehr leisten, in der Sprache der Unternehmensberater heißt dies Produktivitätsfortschritt durch Leistungsverdichtung. Dies halten Jüngere und Starke aus, immer mehr Menschen aber reagieren auf den Stress mit psychischen Erkrankungen. Schließlich haben viele Angst davor, ihren Job zu verlieren. So spüren immer mehr Arbeitnehmer den scharfen Wettbewerb, und selbst bei Banken und Versicherungen, die über Jahrzehnte hinweg von stabilen Arbeitsverhältnissen geprägt waren, geht die Angst um.

Gerade Beschäftigte der Finanzdienstleister seien besonderen gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt, sagt der Verdi-Vorstand Uwe Foullong. Unter ihnen sei der Anteil psychisch Erkrankter schon höher als im Rest der Wirtschaft. Deswegen fordert der Gewerkschafter vorbeugende Maßnahmen in den Betrieben. Sicherlich reduzieren viele Firmen physische Belastungen wie Lärm, Staub oder Vibration, doch gegen zunehmende psychische Belastungen wie ungünstige Arbeitszeiten, schnelleren Arbeitstakt, Zeitdruck oder soziale Konflikte passiert wenig. Wer den Weg ins Trainingszentrum findet, ist meist schon erleichtert, weil er sieht, dass viele die gleichen Probleme haben.

Petra Weber startete im Sommer 2005 einen zweiten Anlauf beim BTZ. "Ich versuche den Wiedereinstieg in die Realität", notierte sie in ihrem Tagebuch. Nun stießen die Worte der Therapeuten bei ihr auf Resonanz. Sie begriff, dass es "physische und psychische Grenzen" gibt, die es zu achten gilt, damit die Seele nicht rebelliert. Und deshalb suchte Petra Weber nun einen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit. Dabei empfand sie das BTZ als eine Art Spielwiese, wo sie realistisch üben konnte, ganz ohne Druck.

Wie mit Ansprüchen und Zweifeln umgehen?

Diesmal schaffte sie den Sprung in die zweite Trainingsphase des BTZ. Sie ging nun vier Tage die Woche in einen Betrieb, wo sie Computernetzwerke betreute, ihr Geld erhielt sie weiter vom Arbeitsamt. Und sie befreite sich von manchen Zwängen. "Es fehlte die früher von mir in meine Kollegen und Vorgesetzten hineininterpretierte Leistungserwartung", sagt sie, "wenn niemand etwas von mir erwartet, bin ich richtig gut!" Für einen Tag in der Woche kam sie weiter ins BTZ, was sie als Rückendeckung empfand. Und damals kam ihr der Gedanke: "Wenn die mich in der Firma fertigmachen, dann gehe ich eben." Das gab ihr Sicherheit und Gelassenheit.

Trotzdem wollte sie ab und zu die Arbeit hinwerfen. Dann sprach sie mit ihren Therapeuten über Ansprüche und Zweifel und den richtigen Umgang damit. So wurde ihr zum Beispiel empfohlen, immer wieder Bilanz zu ziehen und Dinge aufzuschreiben, die noch erledigt werden müssten. Danach könnte sie dann aussortieren, was wirklich wichtig sei. Und sollte sie dies nicht schaffen, dann dürfte sie ruhig auch sagen, dass sie Unterstützung bräuchte. "So senkte ich den Druck, der mich zu überrollen drohte." Damals bekam sie eine realistischere Arbeitseinstellung, "das wird ja in der Arbeitswelt draußen durchaus geschätzt"', sagt sie, "niemand will jemanden, der arbeitet, bis er umfällt."

Neue Grenzen, neuer Job

Susann Günes kennt die Vorurteile gegen psychisch Kranke. Zunächst war es auch für sie, die Verkaufsleiterin einer Firma für Fensterdichtungen ungewohnt, als die erste BTZ-Teilnehmerin ein Praktikum in ihrem Unternehmen begann. Mittlerweile freut sie sich über jeden neuen Praktikanten, selbst ein Autist schreckt sie nicht mehr. "Den lasse ich für sich arbeiten, der nimmt alle Arbeitsvorgänge wie eine Kamera auf, dem brauche ich alles nur einmal zu sagen." Allerdings musste sie auch erleben, wie ein hoffnungsvoller BTZ-Praktikant nach einem Rückfall wieder aus dem Arbeitsleben gerissen wurde. Dabei hätte ihn die Firma gerne als Auszubildenden übernommen.

Bei Petra Weber hatte die Therapie im Traniningszentrum Erfolg. Die Computerfirma, in der sie ihr Praktikum absolviert hatte, stellte sie ein. Obwohl ihre Tätigkeit weniger anspruchsvoll war als früher, war sie dennoch glücklich, weil sie gar nicht mehr damit gerechnet hatte, nach all diesem "Psycho-Kram" wieder eine Arbeit zu finden.

So wie Petra Weber gelingt es jedem zweiten Teilnehmer des BTZ Duisburg, in die Berufswelt zurückzukehren. Allerdings müssten sie häufig bei den Arbeiten und Gehältern Abstriche machen, sagt BTZ-Chef Treude. Zudem sollte sich keiner etwas vormachen: "Hier geht keiner ohne Probleme weg, und die Probezeit zu überstehen, ist genauso schwierig, wie einen Arbeitsplatz zu finden".

Vor kurzem musste sich Petra Weber eine neue Arbeit suchen, weil es der Computerfirma wirtschaftlich immer schlechter ging. Als sie sich für einen neuen Job in einer anderen Computerfirma bewarb, hörte sie sich im Vorstellungsgespräch sagen, dass sie zwar gerne arbeite, insbesondere dann, wenn sie sich mit der Arbeit identifizieren könne, aber Arbeit sei eben nicht alles. "Früher", sagt sie, "war so eine Aussage für mich undenkbar gewesen, noch dazu in einem Vorstellungsgespräch." Denn früher habe sie geglaubt, dass, wann immer sie Grenzen setze, wann immer sie nein sage, dies ein Zeichen ihrer Unfähigkeit sei. "Heute sage ich, es hat einen Wert, was ich mache, ich muss mich nicht verschleudern." Sie hat den Job bekommen.

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