Berufsalltag:Lass die Vorgesetzten reden!

Fingers Crossed...

Offiziell den Anweisungen folgen, aber hintenrum das eigene Ding machen: Damit wollen viele Arbeitnehmer langwierige Abstimmungsprozesse umgehen.

(Foto: Lukas Barth/dpa)

Fast jeder dritte Beschäftigte widersetzt sich den Vorgaben seiner Chefs und verletzt so seinen Arbeitsvertrag. Das muss nicht unbedingt ein Problem sein.

Von Juliane von Wedemeyer

Ein Patient im Behandlungsraum, sechs weitere im Wartezimmer, vierzig in den Betten der Klinik, einige von ihnen im kritischen Zustand. Und draußen kommen schon die Rettungssanitäter mit dem nächsten Notfall. In solchen Situationen nahm es die junge Assistenzärztin während des Nachtdienstes im Krankenhaus gelegentlich mit den Anweisungen ihrer Oberärzte nicht ganz so genau: "Wir sollten dem Oberarzt regelmäßig über den Zustand der Patienten Bericht erstatten. Hin und wieder, wenn besonders viel los war, habe ich dann nicht alles geäußert, worüber ich mir Gedanken machte", erzählt Ursula Moll (Name geändert) über die Zeit ihres Berufseinstiegs. Manche, aus ihrer Sicht weniger wichtige Informationen verschwieg sie ihren Vorgesetzten. "Sie hätten Handlungsanweisungen zur Folge gehabt, die man durch den hohen Stresslevel gar nicht sofort erfüllen hätte können."

Moll handelte in diesen Momenten nicht nur wie viele ihrer Kollegen, sondern wie fast ein Drittel aller Angestellten in Deutschland: Sie setzen sich zeitweilig über die Entscheidung ihrer Vorgesetzten hinweg. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls eine Studie von TNS-Infratest, für die 800 Mitarbeiter und 400 Führungskräfte befragt wurden. Umgekehrt gehen demnach sogar fast zwei Drittel aller Führungskräfte davon aus, dass sich ihre Mitarbeiter nicht immer an ihre Vorgaben halten.

Ähnliche Erfahrungen macht auch der Münchner Coach Martin Carstens, der für das deutsche Trainer- und Coach-Netzwerk 3-Sicht Unternehmen, Verbände und Behörden in Fragen der Organisation und Kommunikation berät. "In unseren Seminaren ist das häufig ein Thema", sagt er.

Halten sich Mitarbeiter nicht an Anweisungen, sei das für die Unternehmen oft ein Problem, erklärt Carstens: "So entwickeln sich Doppelstrukturen: Auf der einen Seite steht der gewünschte Entscheidungsprozess - auf der anderen das gelebte Verfahren, das oft hochgradig wirksam ist." Denn wenn Mitarbeiter die Erfahrung machten, es passiere nichts, wenn sie ihre eigenen Wege gehen, dann täten sie das eben auch, meist in der Überzeugung, das Richtige für das Unternehmen zu tun. Leider sei dieser Weg nicht immer zieldienlich.

Allerdings würden die Mitarbeiter oft auch hineingedrängt. Zum Beispiel, wenn Arbeitsprozesse gar nicht wie vorgesehen funktionieren können - etwa, weil in bestimmten Ausnahmesituationen zu wenig Ärzte für zu viele Patienten zuständig sind. Das sei auch der Fall, wenn Unternehmen ihren Mitarbeitern fremde Strategien und Prozesse überstülpen wollen. "Werden diese nicht an die jeweilige Firmenkultur angepasst, entstehen häufig verdeckte oder auch offene Widerstände", erklärt Carstens. "Übernimmt eine deutsche Firma etwa ein amerikanisches Konzept, muss sie berücksichtigen, dass in Deutschland die Mitarbeiter eine ganz andere Qualifikation und auch Vorgehensweise haben." Hier seien es die Mitarbeiter eher gewohnt, selbständig zu arbeiten. Das aber sähen amerikanische Konzepte nicht unbedingt vor. "Will ein Unternehmen Arbeitsabläufe ändern, ist es wichtig, die Mitarbeiter an der operativen Basis miteinzubeziehen", sagt Carstens. Schließlich seien sie in dieser Hinsicht die Experten.

"Führungskräfte sind kommunikative Schaltzentralen"

Stimmen die Kommunikation und das Klima am Arbeitsplatz, sollte es auch kein Problem sein, wenn sich Mitarbeiter in Ausnahmesituationen gegen die Entscheidung ihres Vorgesetzten und für die situative Notwendigkeit entscheiden. So wie Moll und ihre Kollegen. "Dazu braucht es für alle Beteiligten aber einen kompetenten Umgang mit Unsicherheit", betont Carstens.

Damit haben allerdings manche Vorgesetzte ein Problem. Und nicht nur damit. Übergehen Mitarbeiter Anweisungen, hat es ziemlich oft mit dem Chef zu tun. "Führungskräfte sind kommunikative Schaltzentralen. Sie müssen das Firmeninteresse im Blick haben, für ihre Vorgesetzten wiederum Verantwortung für die Ergebnisse tragen und gleichzeitig hochgradig beziehungsfähig sein, um ihren Mitarbeitern eine angstfreie Arbeitsatmosphäre zu schaffen", sagt Carstens. Nur so hätten diese vollen Zugriff auf ihre Fähigkeiten. "Der Mensch benötigt Beziehungen, er ist ein Rudeltier. Sein Rudel ist in diesem Fall das Arbeitsteam, zu dem er unbedingt gehören will", erklärt er.

"Führungskräfte sind auf die Rückmeldung ihrer Mitarbeiter angewiesen"

Leider mangelt es manchen Führungskräften genau an dieser Beziehungsfähigkeit. "Vor allem denen, die sich gerade durch ein Meer von Härte nach oben kämpfen mussten", sagt Carstens. Sie geben den Druck an ihre Mitarbeiter weiter. Doch damit erreichten sie lediglich, dass sich diese nach außen anpassten und innerlich resignierten oder eben rebellierten und die Anweisungen ihres Chefs umgingen.

Dabei bräuchten Mitarbeiter nur wenige Dinge, sagt Carstens: "Einen respektvollen Umgang, Transparenz, Gestaltbarkeit und Sinnhaftigkeit." Das heißt, sie müssen verstehen, wofür sie etwas tun, es muss ihnen sinnvoll erscheinen und sie benötigen einen gewissen Spielraum, was den Lösungsweg betrifft. "Sind diese Dinge gegeben, können sich die meisten für ihre Aufgaben und Anweisungen begeistern."

Sinnhaftigkeit war es, die Ursula Moll fehlte, als sie vor einigen Jahren mit ihrer Oberärztin aneinandergeriet. Diese hatte sie angewiesen, von einer Patientin Blutkulturen anzulegen und ihr gleichzeitig ein neues Antibiotikum zu geben. Allerdings erhielt die Patientin bereits ein Antibiotikum. "Es bestand also die Gefahr, dass das Medikament das Ergebnis verfälscht", sagt Moll. "Außerdem hätte die Therapie mit dem ersten Antibiotikum ohnehin nur noch einen Tag gedauert." Darum schlug sie ihrer Chefin vor, mit der Blutuntersuchung erst einmal zu warten. Später hätten sie ihr ein Medikament geben können, das dank unverfälschter Untersuchungsergebnisse möglichst genau auf ihre Krankheitskeime zugeschnitten gewesen wäre. Die Antwort ihrer Vorgesetzten: "Ich bin hier die Oberärztin, also machen Sie, was ich sage!"

Ganz so einfach ist es aber nicht. Der Rechtswissenschaftler Professor Thomas Lobinger, der an der Universität Heidelberg Arbeitsrecht lehrt, erklärt: "Ein Arbeitsvertrag ist kein Herrschervertrag, sondern ein Austauschvertrag - Arbeitsleistung gegen Geld." Richtig verstanden erfasse er eben nicht die Person, sondern nur ihre Arbeitsleistung. Lediglich über diese könne der Vorgesetzte bestimmen. Das Weisungsrecht resultiere aus der Unvollständigkeit des Arbeitsvertrags und diene nur dazu, diesen zu konkretisieren.

Ursula Moll hatte damals das Gefühl, einen Fehler zu machen, würde sie der Anweisung der Oberärztin folgen. Also tat sie es nicht. Und tatsächlich wurde die Patientin ohne weiteres Antibiotikum gesund. Trotzdem bekam Moll jede Menge Ärger, ganz zu schweigen vom zerstörten Vertrauensverhältnis zwischen Ober- und Assistenzärztin.

"Man ist an die Weisungen des Vorgesetzten gebunden", sagt Lobinger. Auch, wenn das Weisungsrecht Grenzen hat und nur nach billigem Ermessen genutzt werden darf. Und auch, wenn man die Entscheidung des Chefs nicht nachvollziehen kann. Hält ein Mitarbeiter sich nicht daran, drohen ihm eine Abmahnung samt Eintrag in die Personalakte und beim nächsten Mal sogar die Kündigung. Wobei letztere laut Lobinger immer die Ultima Ratio ist. In den meisten Fällen würde die Führungskraft wohl einfach mit ihrem Mitarbeiter ein ernstes Gespräch führen. In Ursula Molls Fall gab es einen ziemlich lauten Streit auf dem Stationsflur - "vor Kollegen und Patienten". Dabei, so fragt sie sich, hatte sie doch eigentlich richtig gehandelt.

Meist ist die Antwort nicht so eindeutig. Lobinger erklärt das an einem Gedankenspiel: Eine Büroangestellte bekommt von ihrem Chef den Auftrag, tausend Bleistifte bei der Firma A zu kaufen. Stattdessen findet sie aber einen preisgünstigeren Bleistiftanbieter und kauft die Ware dort. Klingt sinnvoll, allerdings ärgert sich der Chef trotzdem. Dafür könnte es verschiedene Gründe geben: Vielleicht ist sein Unternehmen von der Geschäftsbeziehung mit der Firma A abhängig und nun durch den geplatzten Bleistift-Deal in der Existenz bedroht. Vielleicht ist der Chef korrupt und hat sich schmieren lassen. Vielleicht kann er auch einfach nur nicht rechnen. Auf jeden Fall aber hat die Büroangestellte so ihren Arbeitsvertrag verletzt.

Besser wäre es wohl gewesen, der Chef hätte die Büroangestellte vorher aufgeklärt, statt blinden Gehorsam zu erwarten. Oder sie hätte selbst für die nötige Transparenz gesorgt. Hat jemand Zweifel an einer Entscheidung seines Chefs, solle er diese ruhig hinterfragen, findet auch Coach Carstens. "Führungskräfte sind auf die Rückmeldung ihrer Mitarbeiter angewiesen." Allerdings ist das "Wie" dabei wesentlich. Absolut tabu sei, dem Chef selbst Anweisungen geben zu wollen. "Wer das tut, fällt aus seiner Rolle, das funktioniert nicht." Carstens rät dazu, Loyalität und Unterstützung für die Ziele des Vorgesetzten zu signalisieren, unternehmerisch zu argumentieren und so die Nachteile einer Entscheidung zu bedenken zu geben.

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