Bauwerke und ihre Statik:Schwingkräfte

Koeln-Marathon 2008

Marathonläufer in Köln: Bauingenieure messen, welche Auswirkungen rhythmisch stampfende Menschenmassen auf die Statik von Gebäuden haben.

(Foto: ddp/Steffi Loos)

Schwankende Brücken, vibrierende Böden, schaukelnde Ränge: Ingenieure tragen die Verantwortung dafür, dass Bauwerke bei außergewöhnlicher Belastung nicht einstürzen.

Von Christiane Bertelsmann

Gerade noch hatte die Hochzeitsgesellschaft ausgelassen getanzt und gefeiert. Plötzlich tat sich der Boden auf. Im Mai 2001 endete eine Hochzeitsparty im Süden Jerusalems mit einer Katastrophe: Durch die Bewegungen der Tanzenden hatte sich die Decke des Festsaals zu so großen Schwingungen aufgeschaukelt, dass sie einbrach. Durch mehrere Stockwerke stürzten Menschen in die Tiefe, wurden von herabfallenden Betonteilen getroffen und verschüttet. 24 Gäste starben, mehr als 300 wurden schwer verletzt. Eine Tragödie.

"Eine der Einsturzursachen waren die dynamischen Zusatzlasten beim Tanzen", sagt Michael Kasperski. Er ist Dozent an der Fakultät für Bau- und Umweltingenieurwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum und beschäftigt sich schon seit 1992 mit Einsturzunglücken, die durch Personen verursacht wurden, und damit, wie man sie vermeiden kann. Ursprünglich hatte er sich auf Windingenieurwesen spezialisiert, genauer gesagt darauf, welche Auswirkung die Kraft des Windes auf das statische Gesamtsystem von Bauwerken hat. Als sein Vorgesetzter vor ein paar Jahren gebeten wurde, im Fußballstadion des 1. FC Nürnberg die Oberränge der Tribünen auf ihre Schwingungsanfälligkeit zu untersuchen, startete Kasperski dort einen Feldversuch.

Das Fußballstadion sollte auch für Open-Air-Konzerte genutzt werden. Für seine Untersuchungen holte Kasperski zwanzig Berufsschüler auf die Tribüne. Zu rhythmischer Musik ließ er die Jugendlichen auf der Tribüne hüpfen und maß die Schwingungen, die dabei entstanden. Als die Frequenz der hüpfenden Schüler die Eigenfrequenz des Oberrangs traf, bauten sich innerhalb weniger Sekunden riesige Schwingungen mit etwa 50 Prozent der Erdbeschleunigung auf. Die Schüler schrien vor Angst. "Für sie fühlte sich das an wie bei einer Achterbahnfahrt", sagt Kasperski.

Schließlich wurden im Stadion Schwingungsdämpfer eingebaut, allerdings nicht im Bereich der Nordkurve. Das hielt man nicht für vorrangig: Bei Open-Air Konzerten sollte die Nordkurve sowieso nicht genutzt werden, da die Zuschauer von dort aus nicht auf die Bühne sehen können. Bei Fußballspielen war sie aber nach wie vor voll besetzt.

Weil sich in den folgenden Jahren das Verhalten der Fußballfans änderte, kam es im Herbst 2005 fast zu einer Katastrophe. Statt eher passiv auf ihren Plätzen zu sitzen, tanzten und hüpften die Fans im Rhythmus ihrer Gesänge. "Im Herbst 2005 trafen die Fans mit ihrer Hüpffrequenz die Eigenfrequenz des Oberrangs der Nordkurve", sagt Kasperski. Teile der Betonabdeckung platzen ab und regneten auf die Zuschauer im Unterrang. Glücklicherweise wurde niemand ernsthaft verletzt. Inzwischen sorgen Stützen für mehr Sicherheit.

Mit seinem Forschungsteam misst Kasperski, welche Auswirkungen hüpfende Menschenmengen auf die Statik von Gebäuden haben. "Wir haben uns von unseren Sportwissenschaftlern eine Kraftmessplatte ausgeliehen. Dort wird die Platte eingesetzt, um etwa die Schnellkraft bei verschiedensten sportlichen Aktivitäten zu bestimmen. Wir messen damit mit unglaublicher Präzision den Kraft-Zeit-Verlauf, der beim Hüpfen entsteht", sagt Kasperski. Deshalb lässt er seine Studenten zu Forschungszwecken hüpfen. Die erfassten Daten rechnen die Forscher hoch.

Fußballfans lernen dazu: Am Ende der Saison hüpfen sie synchroner als am Anfang

Kasperski und sein Team unterscheiden vier verschiedene Typen von Hüpfern: Erstens die rhythmisch begabten Hüpfer, die genau die Frequenz beim Hüpfen treffen, zweitens die halbwegs begabten, bei denen es bezüglich des Mittelwertes etwas hapert, außerdem die zu schnellen und die besonders langsamen. Fußballfans, hat das Forscherteam herausgefunden, trainieren unbewusst während der Saison alle vierzehn Tage das rhythmische Hüpfen in großen Gruppen. "Dadurch werden sie von Mal zu Mal besser und hüpfen immer synchroner", sagt Kasperski. "All das kann man mit unseren Forschungsergebnissen im Rechner simulieren und entsprechende Vorschläge für die Normung für Stadien ausarbeiten."

Leider gebe es für deutsche Stadien keine Normen, die dynamische Lasten durch hüpfende Fans berücksichtigen würden, sagt Kasperski. Wer Fußballstadien neu baue, halte sich meist an die Richtlinien aus Großbritannien. Dort sei man der Meinung, Fußballfans würden nicht hüpfen. "Unsinn", meint der Bochumer Ingenieur, "hier drohen im schlimmsten Fall die nächsten Katastrophen."

Brücken sind ein weiteres Forschungsgebiet von Bauingenieur Michael Kasperski. "Viele Fußgängerbrücken haben ihre eigenen, mehr oder weniger großen Schwingungsprobleme", sagt er. Wenn die Schwingungen groß genug sind, tendiere der Mensch dazu, sich der Bewegung der Brücke anzupassen. Bei vertikalen Schwingungen wechsele man unwillkürlich mit der Schrittfrequenz in die Schwingfrequenz der Brücke, bei horizontalen Schwingungen vergrößere sich die Schrittweite, ähnlich wie bei einem Seemann auf einem schwankenden Schiff.

"Wozu das führen kann, hat man am Beispiel der Millennium-Brücke sehr deutlich gesehen", sagt Kasperski. Kurz nach der Fertigstellung der Londoner Fußgängerbrücke erkannte man, dass sie vor allem zur Seite hin schwankte. Passanten versuchten unwillkürlich, diese Schwankungen durch ihre eigene Bewegung auszugleichen. Die Schwingung verstärkte sich schließlich derart, dass die Menschen stehen bleiben mussten. Die Brücke wurde gesperrt, ein spezielles Dämpfersystem wurde diagonal unter den Brückenfeldern befestigt und horizontal und vertikal fixiert. "Schwingungsdämpfer beanspruchen nur einen Bruchteil der Gesamtkosten und können enorm viel bewirken", sagt Kasperski. "Für die Zukunft sollten sie daher bereits im Entwurf mit vorgesehen werden." Er kann nur hoffen, meint er, dass seine Studierenden lernen, welche große Verantwortung ein entwerfender Ingenieur trägt.

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