Arbeiten in Singapur:Insel der Leistungsträger

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Kaum Bürokratie und gesetzliche Beschränkungen: Singapur ist ein Forscherparadies.

Manuela Kessler

Es gibt Tage, da wünscht sich Michael Entzeroth einen Berg, der sich hoch über die Niederungen des Alltags erhebt. Zum Abschalten, wie er sagt. Es müsste nicht gerade die Zugspitze sein. Der Kölner Wissenschaftler ist ein anpassungsfähiger Mensch, der bereits in Hawaii, Biberach und Paris gelebt und geforscht hat. Ein richtiger Gipfel anstelle des 164 Meter niedrigen Bukit Timah, der Singapurs höchste Erhebung ist, würde genügen, um den südostasiatischen Inselstaat in seinen Augen zum perfekten Wohnort zu machen.

Metropole mit multikulturellem Charme: die Skyline von Singapur. (Foto: Foto: AP)

"Kein Vergleich zu Paris", schwärmt Entzeroth. "Vergessen Sie Louvre, Eiffelturm und Montmartre - das sind Touristenattraktionen. Mein Berufsalltag in der französischen Hauptstadt war gezeichnet von Verkehrsstaus und einem Hierarchie-Verständnis, das noch von Ludwig XIV. stammt: L'état, c'est moi!"

Es war im Jahr 2002, als der angesehene Chemiker, der das Medikament Micardis gegen Bluthochdruck mitentwickelt hatte, nach einer beruflichen Veränderung, einer neuen Herausforderung im Pharmabereich suchte. Als ihm zugetragen wurde, eine frisch gegründete Forschungsfirma in Singapur halte Ausschau nach einem wissenschaftlichen Leiter, sagte er sich: "Warum eigentlich nicht?" Es handelte sich um S*Bio, ein Joint-Venture des Staates Singapur mit der amerikanischen Firma Chiron, die unlängst von Novartis übernommen wurde.

Die ebenso umsichtige wie zentralistische Regierung hatte die Lebenswissenschaften als Wachstumssektor entdeckt, den es zu fördern gilt - mit allen Mitteln. Der Wissenschaftspark am Rande des Universitätsgeländes ist als biomedizinische Spielwiese angelegt, eine Akkumulation ultramoderner Forschungsstätten, die eingebettet ist in eine tropische Parklandschaft. Das Taxi kurvt um Verkehrsinselchen herum, auf denen Orchideen blühen, vorbei an Gebäuden, die aussehen, als wären sie gestern erst gestrichen worden, bevor es schließlich vor einer strahlenden Glasfassade hält.

Die Lobby erinnert an ein Fünf-Sterne-Hotel, der Empfang von S*Bio im fünften Stock tut es nicht: Neben dem Telefon liegt ein Nummernverzeichnis mit der Aufforderung, sich selbst bei seinem Ansprechpartner anzumelden. Auf Formalitäten wird keine Energie verschwendet. "Die Bürokratie beschränkt sich in Singapur auf das Notwendige", sagt Entzeroth. "Es gibt Kontrollen, aber keinen Papierkrieg wie in Deutschland, um Genehmigungen für gentechnische Versuche oder Arbeiten mit radioaktiven Isotopen zu erhalten." Die Wissenschaftler können sich aufs Forschen konzentrieren. Leistung wird - dem Arbeitsethos der chinesischen Bevölkerungsmehrheit entsprechend - von ihnen erwartet, ohne Wenn und Aber.

Das etwa 50 Köpfe zählende Team um Entzeroth, das sich aus zwölf Nationen rekrutiert, hat in nur einem Jahr einen Wirkstoff gegen Leukämie identifiziert. Die Gentechnologie und lange Arbeitszeiten machten es möglich. Anfang kommenden Jahres soll mit klinischen Tests begonnen werden. Der Weg bis zur Zulassung eines neuen Medikaments ist noch lang, aber ein viel versprechender Anfang ist gemacht. Zwei indische Wissenschaftler mit Turban, die sie als Sikhs ausweisen, schauen bei S*Bio vorbei. Sie gratulieren Michael Entzeroth zu seinem Erfolg, der Schlagzeilen in Singapurs führender Zeitung machte.

Es ist der internationale Charakter, der multikulturelle Charme der vier Millionen Einwohner zählenden Metropole, den Stephen Wittkopf schlicht begeisternd findet. Seine fünfjährige Tochter besucht eine internationale Schule, wo sie in Englisch und Chinesisch unterrichtet wird. Die einjährigen Zwillinge wachsen ebenfalls bereits mehrsprachig auf - dank der Kontakte auf dem Spielplatz und im Twin-Club. Und die Hausangestellte, die hier in fast allen bürgerlichen Familien lebt und hilft, möchte auch seine Frau nicht mehr missen.

Der Architektur-Dozent schwärmt von den Möglichkeiten, welche die erstklassige Infrastruktur und die internationale Vernetzung bieten. Einfühlungsvermögen und Leistungswille sind im Gegenzug verlangt, auch im Hochschulbetrieb. Die Lehrbeauftragten werden von Vorgesetzten, Kollegen und Studenten regelmäßig bewertet. Wer Schwächen offenbart, wird nach Ablauf des auf drei Jahre befristeten Vertrags ersetzt.

"Das System ist hart, aber professionell und transparent", sagt Wittkopf, der den Arbeitsvertrag bereits zum zweiten Mal verlängert hat. Die Tatsache, dass auch die Hochschulforschung wirtschaftlichen Erwägungen folgt, empfindet er als motivierend. Seit dem Wechsel von der Technischen Hochschule Darmstadt nach Singapur hat er den Schwerpunkt seiner Arbeit erweitert. Zur computergestützten Visualisierung ist die solare Architektur hinzugekommen, denn er hat beobachtet, dass das gleißende Sonnenlicht hier am Äquator kaum berücksichtigt und genutzt wird. Wittkopf trägt seinen Teil zum Umdenken bei.

Die Zeiten, da westliche Fachkräfte mit feudalen Zulagen verwöhnt wurden, sind vorbei. Gut qualifizierte Einheimische und Asiaten übernehmen immer mehr Führungspositionen. Die Zahl der Deutschen steigt dennoch. 4900 Bundesbürger leben derzeit im Inselstaat - mehrheitlich Leute, die bei deutschen Firmen beschäftigt sind und ihre Angehörigen. Wissenschaftler, die sich von Singapurer Institutionen und Firmen anheuern lassen, sind noch die Ausnahme.

Der Personalberater Klaus Nienhaus ist jedoch überzeugt, dass sie die Zukunft verkörpern. "Die Nachfrage nach Top-Leuten, die sich auf die hiesigen Verhältnisse wirklich einlassen, ist riesig", sagt der Mann, der noch zu jenen Auslanddeutschen zählt, die in Singapur irgendwann hängengeblieben sind. Mehr als zehn Jahre ist es her, dass ihn die Bayerische Vereinsbank in den immergrünen Stadtstaat versetzte, der so gut organisiert ist, dass er schier alle Ansprüche erfüllt. Singapur vereint Ost und West scheinbar spielend.

"Ich habe alles, was ich brauche", sagt Michael Entzeroth. "Der Botanische Garten liegt in der Nähe meiner Wohnung, der Arbeitsplatz ist nur 20 Minuten entfernt, und im Lebensmittelgeschäft finde ich sogar Jacobs Krönung und Haribo." Die Jahreszeiten und gewisse Gerichte mögen anderen Deutschen fehlen. Er aber kann - "wie jeder gute Chemiker" - nach Lust und Laune selber kochen. Wenn nur nicht die Erinnerung an den Winter im Schwarzwald wäre! Es fehlt wirklich nur der Berg.

© SZ vom 23.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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