AOK-Studie:Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankung nehmen drastisch zu

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Es kann jeden treffen: Etwa die Hälfte der Erwerbstätigen musste in den vergangenen fünf Jahren eine Lebenskrise meistern. (Foto: Victoria Bonn-Meuser/dpa)

Das zeigt eine Studie der AOK. Dass Beschäftigte viel kränker sind als früher, steht damit zwar nicht fest, Hilfe vom Arbeitgeber bräuchten sie dennoch, warnen Experten.

Von Kim Björn Becker und Thomas Öchsner, Berlin/München

Jeden Lokführer kann es irgendwann treffen: Ein Mensch stürzt sich vor seinen Zug. Rein statistisch passiert das einem Lokführer der Deutschen Bahn (DB) alle 20 Jahre - bei jährlich 700 Selbstmorden auf Bahngleisen in Deutschland. Die DB lässt in solchen Fällen ihre Mitarbeiter nicht allein. Haben Lokführer einen Suizid auf der Schiene erlebt, werden sie von einem Kollegen abgelöst, nach Hause begleitet und psychologisch betreut, um posttraumatische Belastungsstörungen zu vermeiden. In den Dienst müssten sie erst wieder, wenn sie den Vorfall seelisch bewältigt haben, sagt Christian Gravert, Leiter des Gesundheitsmanagements bei der Bahn.

Womit Lokführer konfrontiert sind, bleibt den allermeisten Arbeitnehmern in Deutschland erspart. Doch auch sie können in eine schwere Lebenskrise geraten, etwa durch eine chronische Krankheit, den Tod des Partners, eine Scheidung, finanzielle Nöte oder Mobbing und Streit am Arbeitsplatz. Das passiert relativ häufig: Etwa die Hälfte der Erwerbstätigen musste in den vergangenen fünf Jahren eine Lebenskrise meistern. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage bei 2000 Erwerbstätigen hervor, die das Wissenschaftliche Institut der AOK für seinen "Fehlzeiten-Report 2017" in Auftrag gab.

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Die Arbeitsausfälle durch psychische Erkrankungen stiegen in den vergangenen zehn Jahren um fast 80 Prozent. Der Krankenstand der AOK-Versicherten lag 2016 mit 5,3 Prozent auf dem Niveau des Vorjahres, im Schnitt war jeder Beschäftigte 19,4 Tage vom Arzt krankgeschrieben.

Krisen machen krank

Lebenskrisen häufen sich dem Bericht zufolge mit zunehmendem Alter: Nur gut ein Drittel der unter 30-Jährigen berichtet von solchen einschneidenden Wendepunkten im Leben. Bei den 50- bis 65-Jährigen sind es schon fast zwei Drittel. Die große Mehrheit leidet dann unter körperlichen Beschwerden und psychischen Problemen, die sich schlimmstenfalls verfestigen. Schon der österreichische Dichter Ernst Jandl schrieb: "Die Krise ist ein Riese, der in jedem Zwerg Platz hat."

Die Folgen solcher Lebenskrisen spüren auch die Arbeitgeber: Gut die Hälfte der Betroffenen fühlt sich nicht mehr voll leistungsfähig. Fast jeder zweite gibt an, trotz einer womöglich durch die Krise ausgelösten Erkrankung zur Arbeit zu gehen. Jeder dritte meldet sich häufiger krank.

"Früher hätte man gesagt, das ist eine Privatangelegenheit", sagt Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des AOK-Instituts. Heute reagierten aber viele Unternehmen darauf - wie die Bahn mit ihrem Betreuungsprogramm für die Lokführer. Darauf deuten auch die Ergebnisse der Umfrage hin: So sprachen fast 46 Prozent mit ihren unmittelbaren Vorgesetzten über ihre Probleme. Jeder fünfte Teilnehmer antwortete, der Arbeitgeber habe flexiblere Arbeitszeiten angeboten. Zwölf Prozent der Betriebe gewähren der Umfrage zufolge in solchen Fällen sogar unbezahlten Urlaub oder Sonderurlaub.

"Kritische Lebensereignisse bei Beschäftigten können ein Stresstest für die Stabilität der beiderseitigen Beziehung zwischen Unternehmen und Mitarbeitern sein", sagt AOK-Experte Schröder. Hätten beide Seiten das Gefühl, die Krise gut gemeistert zu haben, könnten sie "gestärkt aus ihr hervorgehen".

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Zu wenig getan wird laut Schröder noch in kleinen Firmen. Das sieht Wolfgang Panter etwas anders. Natürlich könne es sein, dass Mitarbeiter, die in einer Krise sind, in kleinen Unternehmen keinen Ansprechpartner finden, sagt der Präsident des Verbands der Betriebs- und Werksärzte. Dafür gebe es zum Beispiel im Handwerksbetrieb aber "eher einen persönlichen Kontakt zwischen den Mitarbeitern, und es fällt den Kollegen auf, wenn mit einem etwas nicht stimmt". Das, sagt Panter, sei ein Wert an sich.

Führungskräfte müssen Empathie mitbringen

Großkonzerne seien hingegen darauf angewiesen, entsprechende Programme aufzusetzen, weil es etwa im Schichtbetrieb oft etwas anonymer zugehe und sich Mitarbeiter nicht so regelmäßig sähen. "Es gibt große Unternehmen, die hervorragende Programme haben. Da werden zum Beispiel Betriebsärzte in Psychosomatik weitergebildet, manchmal können Mitarbeiter auch einen Psychiater in Anspruch nehmen", sagt Panter. Als Mediziner hat er selbst langjährige Erfahrung, seit den Achtzigerjahren ist er leitender Betriebsarzt eines Duisburger Stahlunternehmens.

Und noch etwas hat der Arbeitsmediziner beobachtet: "Vor zehn Jahren galt es noch als Makel, wenn jemand zum Psychiater ging. Heute ist das zum Glück anders, psychisch Kranke nehmen ärztliche Hilfe häufiger in Anspruch." Die Chefs können ihren Mitarbeitern helfen, indem sie es ansprechen, wenn jemand sich plötzlich anders verhält - wenn er zum Beispiel fahrig wirkt oder niedergeschlagen. "Aber sie sollten keine Diagnosen stellen", rät Panter.

Schätzen Arbeitnehmer die soziale Kompetenz ihres Vorgesetzten als hoch ein, lassen sie sich viel häufiger von ihrem Chef helfen. Führungskräfte müssten deshalb Empathie mitbringen und sensibel genug sein, Lebenskrisen von Mitarbeitern nicht einfach zu ignorieren, sagt der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands, Martin Litsch.

© SZ vom 15.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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