Anke Domscheit-Berg:"Ich bin mit Karacho gegen die gläserne Mauer gerannt"

Anke Domscheit-Berg

Anke Domscheit-Berg will als Parteilose auf der Liste der Linken für die Bundestagswahl im Jahr 2017 kandidieren.

(Foto: dpa)

Anke Domscheit-Berg ist Beraterin, Netzaktivistin, Politikerin - und seit Kurzem Flüchtlingshelferin. Sie ist überzeugt: Nur Chefs, die Unterschiedlichkeit wertschätzen, bekommen innovative Mitarbeiter.

Von Charlotte Haunhorst

Mit Anke Domscheit-Berg über Vielfalt und Innovation zu sprechen, stellt einen vor Probleme: Wo soll man da nur anfangen? Vielleicht an dem Ort, der ganz von allein viel über einen Menschen preisgibt: die Küche.

In der von Anke Domscheit-Berg, 48, ehemals Vorsitzende der Piratenpartei im Landesverband Brandenburg und derzeit hauptberuflich Netzaktivistin und Publizistin, sitzen an diesem Freitagmittag mit ihr vier Personen: ihr Mann, ihr Sohn, eine junge Syrerin und ein Dolmetscher. Alle vier kauen Kürbiskerne: "Die Angewohnheit hat uns Fatmas Familie mitgebracht", sagt Domscheit-Berg und spuckt die Kürbiskernschale mit einem "Pling" in eine bunte Porzellanschüssel.

Fatma und ihre Kinder wohnen seit einigen Monaten im Haus der Domscheit-Bergs im brandenburgischen Fürstenberg, es ist nicht die erste geflüchtete Familie, die bei ihnen untergekommen ist. Gerade eben hatten sie noch einen Termin beim Amt, Fatma und ihre Familie sollen eine eigene Wohnung bekommen. "Pling, pling, pling" macht es vom Tisch. Aber nicht nur die syrische Familie profitiert vom Leben bei den Domscheit-Bergs. "Jeder Kontakt war auch eine Bereicherung für uns. Weil wir die Perspektive gewechselt haben", sagt Anke Domscheit-Berg.

So kam ihr vergangenes Jahr die Idee, die Bedürfnisse vieler Geflüchteter mit dem Know-how aus ihrem Tech-Umfeld zu kombinieren. Der erste "Refugee Hackathon" wurde geboren: An diesem Tag entwickelten Geflüchtete, Helfer und Programmierer gemeinsam Programme, die den Alltag der Flüchtlinge verbessern und vor allem erleichtern sollen, Angebote, die Behörden und Geflüchtete zusammenbringen, die Hilfen besser verteilen, die informieren und weiterbilden.

Auf der einen Seite sie, mit Rock und Haarreif, auf der anderen die Anzugträger

Nun geht es darum, auch eine Finanzierung dafür zu finden. Erst am Vortag war Anke Domscheit-Berg deshalb beim Kaminabend einer Strategieberatung in Berlin eingeladen. Das sind weitere ihrer Rollen: Managerin und Organisatorin. Ihre Berufserfahrung bei Unternehmen wie Accenture, McKinsey und Microsoft kommt ihr da zugute. "Das klebt in so Runden wie ein TÜV-Gütesiegel an mir. Dann ist man trotz Frau jemand, der vermutlich sinnvolle Dinge sagt", erzählt Domscheit-Berg lachend.

Man kann sich gut vorstellen, wie sie das meint: auf der einen Seite sie, gern mit Rock und Haarreif, besonders gern in der Farbe Rot, und auf der anderen Seite die Anzugträger. Und dann macht sie den Mund auf und zitiert aus dem Gedächtnis Studien zu Führungsstilen und Geschlechtergerechtigkeit, die jeden Widerspruch unmöglich machen. "Früher gab es Vorgesetzte, die mir farbliche Akzente bei der Kleidung verbieten wollten. Die sagten, ich solle mich dezenter geben", sagt Domscheit-Berg. Und danach ernsthaft erbost: "Aber ich verrate mich doch nicht selbst."

Ihre Prognose ist vielmehr, dass Vielfalt, sei es nun im beruflichen Werdegang oder bei der persönlichen Herkunft, zukünftig immer wertvoller für Arbeitgeber wird - weil nur so neue Führungsstile und Denkweisen möglich sind, weil so Veränderung entsteht, Innovation. Und da Mitarbeiter mit vielfältigen Backgrounds sich meistens mit Veränderungen auskennen. Genau wie Anke Domscheit-Berg.

Sie weiß, wovon sie spricht - und es macht ihr keine Angst

Anke Domscheit-Berg Plan W

Idylle zwischen Sonnenblumen und summenden Bienen: Anke Domscheit-Berg in ihrem Garten.

(Foto: Monika Keiler)

Das Gespräch findet mittlerweile in ihrem Garten statt, dort ist es ruhiger. Vorgestern war hier noch ein Sommerfest für Flüchtlinge und Nachbarn. Nun macht nur noch der stündlich vorbeirauschende Regionalexpress nach Berlin Lärm. In so einer Idylle zwischen Sonnenblumen und summenden Bienen wirkt es fast surreal, wenn sie gut gelaunt Sätze sagt wie "Wirklich jede Schule sollte einen 3-D-Drucker haben!" oder "Die Menschen müssen sich darauf einstellen, dass es wegen des technischen Fortschritts viele Jobs bald nicht mehr geben wird".

Tatsächlich weiß sie sehr genau, wovon sie spricht - und es macht ihr keine Angst. Ein 3-D-Drucker-Labor haben sie selbst im Haus, Schulklassen aus dem Ort können daran arbeiten. So will sie bereits bei Schülern ein größeres Interesse an Technik und Innovation fördern, ihnen nahebringen, dass es wichtig ist, sich auf Umbrüche und Fortschritt einzustellen, flexibel zu bleiben.

Sie selbst erlebte mit 22 zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, von einem Tag auf den anderen das ganze Leben neu sortieren zu müssen. Damals hatte sie nach einem Textilkunst-Studium eine Anstellung bei einem Verleger in Leipzig in Aussicht. Dann fiel die Mauer und mit ihr der Verlag in sich zusammen.

Domscheit-Berg nahm eine Einladung von Freunden nach Frankfurt am Main an,"Hier gibt es Arbeit, bestimmt auch für dich", sagten sie. Ein paar Jahre arbeitete sie bei einem Reiseveranstalter, dann studierte sie BWL mit Schwerpunkt auf Sprachen. "Um bloß nie arbeitslos zu sein - das waren ja bereits viele von meinen ostdeutschen Freunden und Verwandten", sagt sie. Nach dem Studium findet sie einen Job bei der Beratung Accenture.

Kurz vor dem Aufstieg ins Management wird sie ausgebremst

"Am ersten Tag haben die mir erklärt, ich müsse jetzt programmieren lernen", erzählt Domscheit-Berg und füllt noch ein paar Kürbiskerne in die mitgenommene Schüssel nach. Wieder etwas Neues und eine Entscheidung, die den Grundstein für ihre spätere Neuerfindung als Netzaktivistin und Brandenburg-Vorsitzende der Piratenpartei setzen sollte. Dazwischen macht Domscheit-Berg Karriere als Beraterin, steht kurz vor dem Aufstieg ins Management. "Und dann bin ich mit Karacho gegen die gläserne Mauer gerannt", sagt sie und lächelt ein bisschen über ihre eigene Naivität. "Ich hab die einfach nicht gesehen. Lag vielleicht auch an meiner Ost-Sozialisation."

Sie beginnt, sich mit den Hürden für Frauen in Führungspositionen auseinanderzusetzen. Bekommt gut gemeinte Ratschläge wie eben jene mit der Kleidung. Fängt an, diese Dinge zu thematisieren. Sie führt für McKinsey eine große Studie zu Frauen in Führungspositionen durch und schärft so ihr Profil als Fachfrau für Gleichstellungsthemen. Sie macht sich mit fempower.me und opengov.me selbstständig und berät bis heute Unternehmen, warum sie mehr Frauen in Führungspositionen brauchen und wie das gelingt.

Manche nehmen ihr den erneuten Parteiwechsel übel

Neben der Gleichstellung rückt im Laufe der Jahre immer weiter auch die Netzpolitik in den Fokus, folgerichtig wechselt sie 2012 von den Grünen zur Piratenpartei. Sie verwendet einen Großteil ihrer Zeit auf Politik und publiziert mehrere Bücher. 2014 erfolgte dann der Austritt und Rückzug ins Private - wohl auch wegen der immer noch bestehenden Probleme mit Frauen in der Tech-Szene. Und jetzt?

Aktuell ist Anke Domscheit-Berg Beraterin, Politikerin, Unternehmerin, Netzaktivistin und Publizistin. "Außerdem bin ich noch Guerillastrickerin, Flüchtlingshelferin, Tochter, Ehefrau, Mutter und noch einiges mehr", sagt sie. Arbeitgeber müssten anerkennen, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viele Rollen haben und diese auch leben wollen. "Nur wer die Diversität der einzelnen Menschen auch zulässt, ja wertschätzt, bekommt glückliche und innovative Mitarbeiter", ist Domscheit-Bergs Überzeugung.

Plötzlich ruft im Brandenburger Garten eine helle Kinderstimme "Hallo Anke!" hinter der Hecke hervor. Ein kleines Mädchen kommt angelaufen, setzt sich ganz selbstverständlich neben sie auf die Bank im Garten. Es ist Fatmas jüngste Tochter. Einige Wörter fehlen noch, aber "spielen" und "Kindergarten", das kann sie von ihrem Tag schon erzählen. Auf dem Schoß hat sie einen kleinen, selbst gestrickten Rucksack. "Ein Geschenk von den Frauen aus unserer lokalen Strickgruppe", erklärt Anke Domscheit-Berg.

Später, als das Mädchen ins Haus gegangen ist, erzählt sie noch, wie skeptisch einige der Einwohner im Dorf zunächst den Flüchtlingen gegenüber gewesen seien. "Und dann haben sie Menschen wie Fatma und ihre Familie bei uns kennengelernt, und auf einmal setzen sich so viele für sie ein", sagt Domscheit-Berg. Genauso könnte es auch in der Wirtschaft passieren: Lassen sich Unternehmen erst einmal auf Menschen mit anderer Herkunft, mit anderen Erfahrungen, anderer Kultur ein, stellen sie schnell fest, wie bereichernd die Vielfalt ist, wie viele neue Ideen durch sie entstehen.

Ihr Gegner im Wahlkreis: Außenminister Steinmeier

Anke Domscheit-Berg selbst will, auch auf Basis dieser Erfahrungen und ihrem Engagement für Flüchtlinge, als Parteilose auf der Liste der Linken für die Bundestagswahl im Jahr 2017 kandidieren. Ihr Gegner im Wahlkreis wird Außenminister Frank-Walter Steinmeier sein. Es ist die jüngste der Neuerfindungen der Anke Domscheit-Berg.

In manchen Medien wurde ihr der erneute Parteiwechsel übelgenommen. "Wankelmütig" sei sie, war dort zu lesen. Anke Domscheit-Berg schüttelt den Kopf. "Die Gesellschaft und die Parteien, ihre Schwerpunkte und Ausrichtungen haben sich geändert, nicht ich meine politischen Grundüberzeugungen", sagt sie. Und dass man in der Politik vielleicht, anders als in Unternehmen, für verschlungenere Lebens-läufe noch nicht so bereit sei. Sie will das mit ihrer Biografie ändern. Stichwort: Diversity.

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