Amoklauf von Winnenden:"Todessehnsucht, Hass und Rache"

Schulpsychologe Hans-Joachim Röthlein betreut Überlebende nach Amokläufen. Ein Gespräch über das Leid der Opfer, Motive der Täter und sinnvolle Prävention.

J. Bönisch

Der Schulpsychologe, Supervisor und Verhaltenstherapeut Hans-Joachim Röthlein ist Sprecher des KIBBS - des Krisen-Interventions- und Bewältigungsteams Bayerischer Schulpsychologen. Die Experten des KIBBS stehen Schulklassen und Lehrern bei Krisen, großen Unfällen und Amokdrohungen zur Seite, nach Amokläufen betreuen sie Überlebende. So war Röthlein auch nach dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium im Jahr 2002 vor Ort. Er erklärt, wie die Überlebenden nun betreut werden sollten, wie sie das Erlebte verarbeiten - und wie sich solche Taten in Zukunft verhindern lassen.

Amoklauf von Winnenden: Blumen nahe der Albertville-Realschule in Winnenden: Trauerrituale helfen den Überlebenden, die Situation zu verarbeiten.

Blumen nahe der Albertville-Realschule in Winnenden: Trauerrituale helfen den Überlebenden, die Situation zu verarbeiten.

(Foto: Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Herr Röthlein, was brauchen die Schüler, Lehrer und Eltern aus Winnenden jetzt am dringendsten?

Hans-Joachim Röthlein:Wer diesen Amoklauf erlebt hat, hat jetzt ein riesiges Bedürfnis nach einem Ort der Sicherheit. Diesen Ort muss man den Menschen geben und ihnen mit Hilfe banaler Mittel versichern: Wir beschützen euch jetzt. Dazu gehört zum Beispiel, dass viele Polizisten vor Ort sind oder ganz einfach, dass Türen abgeschlossen werden. Später können auch Klassenräume videoüberwacht werden, damit sich die Schüler gut aufgehoben fühlen.

sueddeutsche.de: Wie reagieren Beteiligte auf ein so traumatisches Erlebnis?

Röthlein: Der Schock sitzt ihnen tief in der Seele und im wahrsten Sinne des Wortes in den Knochen: Ihr Körper fühlt sich taub an, zugleich befindet er sich in einem Zustand höchster Erregung. Das Herz rast, der Blutdruck steigt. Der psychische Schock sitzt bei manchen so tief, dass eine Handlungslähmung eintritt, sie halten das Erlebte nicht für wirklich. Manche Menschen dissoziieren sich, das heißt, sie treten quasi aus sich heraus und beobachten sich selbst dabei, wie sie geschockt sind. Wird die Situation nicht verarbeitet, führt das zu einer posttraumatischen Belastungsstörung.

sueddeutsche.de: Was bedeutet das?

Röthlein: Die Betroffenen spielen den Amoklauf immer und immer wieder durch - und können dabei nicht zwischen Realität und Einbildung unterscheiden.

sueddeutsche.de: Wie lange dauert es, bis die Opfer wieder in ihren Alltag zurückkehren können?

Röthlein: Im Idealfall setzt nach etwa vier Wochen ein Selbstheilungsprozess ein, aber die seelischen Folgen sind natürlich viel länger zu spüren. Bei manchen Menschen kommen die Bilder des Tattags immer wieder hoch. Schüler und Lehrer unterscheiden sich im Übrigen nicht in ihren Verarbeitungsmechanismen.

sueddeutsche.de: Sie haben unter anderem nach dem Amoklauf von Erfurt Schüler und Lehrer betreut. Wie läuft solch ein KIBBS-Einsatz ab?

Röthlein: Sofort nach einem Amoklauf sind zunächst einmal Polizei, Feuerwehr, Sanitäter und Notfallseelsorger gefragt. Wir stoßen meist am zweiten Tag dazu und übernehmen die längerfristige Betreuung. Schwerstbetroffene betreuen wir in Einzelgesprächen. Zusätzlich bilden wir Gruppen, in denen sich die Opfer gegenseitig ihren Schrecken schildern können. Wir versuchen sie dazu zu bringen, sich zu öffnen und das Unfassbare auszudrücken. Außerdem unterstützen wir sie in allen Ritualen des Abschiednehmens.

sueddeutsche.de: Wie sehen solche Rituale aus?

Röthlein: Schüler und Lehrer stellen Bilder der Opfer auf, zünden Kerzen an und legen Blumen nieder. Ganz wichtig sind eine Trauerfeier, die die Schule organisieren sollte, und die Beerdigung. Die Anlässe bieten Gelegenheit, sich von den Toten zu verabschieden. Und dann müssen wir an die Wut der Überlebenden herankommen.

Auf der nächsten Seite: Warum die Überlebenden Wut verspüren, wie Lehrer gefährdete Schüler erkennen können und wie eine Gefährderansprache funktioniert.

"Todessehnsucht, Hass und Rache"

sueddeutsche.de: Die Überlebenden verspüren Wut?

Amoklauf von Winnenden: Hans-Joachim Röthlein: "Auch andere Lehrer sollten mit ihren Schülern über den Amoklauf sprechen."

Hans-Joachim Röthlein: "Auch andere Lehrer sollten mit ihren Schülern über den Amoklauf sprechen."

(Foto: Foto: oH)

Röthlein: Ja, weil bei einem Amoklauf ein anderer Mensch direkt für die Tat verantwortlich gemacht werden kann. Schüler und Lehrer stellen sich deshalb zwangsläufig die Frage: Welches Recht hatte der Täter, unsere Freunde zu ermorden? Natürlich lautet die Antwort darauf: keines. Und gerade diese Sinnlosigkeit schürt den Zorn. Wer aber nicht über diesen Zorn redet, ihn nicht in den Griff bekommt, der wird die Bilder auch nie verarbeiten können.

sueddeutsche.de: Die KIBBS-Psychologen kümmern sich nicht nur um die Opfer eines Amoklaufes, sondern versuchen auch vorzubeugen. Wie sieht diese Präventionsarbeit aus?

Röthlein: Wir schulen Lehrer sowie beraten und bilden schulinterne Krisenteams fort. Das heißt, wir klären darüber auf, wie Lehrer und Mitschüler auf Gewaltandrohungen reagieren sollten, was zu tun ist, wenn ein Schüler einen Amoklauf ankündigt und wie sie gefährdete Jugendliche erkennen können.

sueddeutsche.de: In Deutschland kommt auf 12.500 Schüler nur ein einziger Schulpsychologe - da können doch gar nicht alle Lehrer vorbereitet werden.

Röthlein: Natürlich wäre es toll, wenn jede Schule eine Vollzeitstelle für einen Schulpsychologen hätte. Doch im Moment reichen dafür leider die finanziellen Mittel nicht aus. Trotzdem sind Lehrer heute sehr aufmerksam und informieren uns rasch. Die Sensibilität bei dem Thema ist mittlerweile sehr groß.

sueddeutsche.de: Was sind Warnsignale, die einen Lehrer hellhörig werden lassen sollten?

Röthlein: In der Regel durchläuft ein Täter drei Phasen: In der ersten fällt er zum Beispiel durch Schwänzen oder Drogenmissbrauch auf. In der zweiten Phase zieht er sich zurück, setzt sich etwa durch seine Kleidung von den Mitschülern ab und beschäftigt sich intensiv mit "Vorbildern", also anderen Tätern. Außerdem macht er häufig Anspielungen, er deutet die Tat bereits an. Aufmerksame Mitschüler und Lehrer sollten uns hier schon informieren. Dann können wir eingreifen.

sueddeutsche.de: Wie reagieren Sie auf solch eine Amokdrohung - und wie häufig kommt so etwas vor?

Röthlein: Zwischen 30 und 50 Mal im Jahr. Die Polizei führt dann eine sogenannte Gefährder-Ansprache durch, das heißt, sie prüft etwa, ob der Schüler über Waffen verfügt. Dann klären Psychologen die Motivlage. Häufig stellt sich dabei heraus, dass der potentielle Täter psychische Probleme hat, die dann selbstverständlich behandelt werden. Außerdem wechselt er die Schule, denn für Lehrer und Mitschüler ist es nur sehr schwer zu ertragen, diesen Menschen in ihrer Mitte zu wissen - vor allem, wenn bereits eine Todesliste mit den Namen möglicher Opfer existiert. Beim Schulwechsel sollte der Schüler natürlich nicht einfach abgeschoben, sondern intensiv begleitet werden.

sueddeutsche.de: Was geschieht, wenn Sie in der zweiten Phase nicht informiert werden und den Schüler ansprechen können?

Röthlein: Dann tritt Phase drei ein: Der Amokläufer festigt seine Absichten, häufig verspürt er eine große Todessehnsucht, gepaart mit Hass und Rache. Nach einem Auslöser, etwa einer erneuten Demütigung, kommt es dann zur Tat.

sueddeutsche.de: Was empfehlen Sie Lehrern anderer Schulen: Sollten sie den gestrigen Amoklauf im Unterricht thematisieren?

Röthlein: Da die Schüler untereinander natürlich darüber sprechen, sollte auch der Lehrer die Diskussion anstoßen - und jeder Glorifizierung des Täters scharf entgegentreten. Denn wir wissen, dass Amokläufe andere Täter zur Nachahmung provozieren können, und das müssen wir jetzt unbedingt vermeiden.

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