Amerikanisches Bildungswesen:Vorbild aus falschen Gründen

Deutsche sind zu Recht beeindruckt von den Hochschulen Amerikas - doch die Ehrfurcht beruht auf vielen Mythen.

Gero Lenhardt

Die amerikanischen Hochschulen gelten Hochschulreformern in Deutschland als vorbildlich. Sie seien selektiver und ungleicher als die deutschen und würden damit der Ungleichheit der individuellen Begabungen und der beruflichen Qualifikationsansprüche besser gerecht. Und weil sie Konkurrenzzwängen unterlägen, seien sie auch produktiver. Tatsächlich sind die Hochschulen in den USA aber weniger selektiv als die deutschen, sie entsprechen der bürgerlichen Gleichheitsnorm besser, und die Konkurrenz trägt zu ihrer Produktivität nichts bei.

Amerikanisches Bildungswesen: Harvard Universität: Das Symbol des deutschen Traums einer erstklssigen Hochschule.

Harvard Universität: Das Symbol des deutschen Traums einer erstklssigen Hochschule.

(Foto: Foto: dpa)

Dass das amerikanische Bildungswesen insgesamt weniger selektiv ist als das deutsche, geht schon daraus hervor, dass in den USA ein sehr viel größerer Anteil der jungen Generation studiert. In Deutschland liegt die Quote der Hochschulabsolventen mit 19 Prozent weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder von mehr als 30 Prozent.

Amerikaner sind überzeugt, dass alle Menschen dazu begabt sind, etwas aus sich zu machen. Diese Überzeugung ergibt sich aus dem optimistischen Menschenbild der Demokratie. Es kommt in der bedingungslosen Geltung der Bürgerrechte zum Ausdruck.

Man behält sie, auch wenn man scheitert. Man bleibt mit der Erwartung eigenverantwortlichen Handelns konfrontiert und damit zugleich mit dem Vertrauen, dieser Erwartung gewachsen zu sein.

In Deutschland gilt dagegen der Glaube, gegen Begabungsmängel könnten Bildungsanstrengungen nicht viel ausrichten. Leistungsschwache Schüler werden rigoros aussortiert und von weiterführender Bildung ausgeschlossen. Das Leistungsprinzip hat in Deutschland eine ganz andere Bedeutung als in den USA.

Die Selektion im amerikanischen Hochschulwesen rationiert die Bildungschancen nicht, sondern dient der Verständigung über Bildungserwartungen. Von der Lehre und Forschung bis hin zum Essensangebot müssen die Hochschulen versuchen, den Erwartungen der Studenten gerecht zu werden.

Verlieren sie diese aus dem Blick, können sie leicht in eine Krise geraten. Denn Studieninteressierte bewerben sich bei mehreren Hochschulen und treffen ihre Wahl unter denen, die sie zulassen würden. Studieninteressenten haben also das erste und das letzte Wort und entscheiden so über das Schicksal der Hochschulen.

Nicht alle US-Hochschulen sind selektiv, viele praktizieren offenen Zugang. Die selektiven legen großes Gewicht auf das wissenschaftliche Leistungsvermögen der Studenten, aber auch auf bürgerliche Tugenden. Den Prognosewert von Schulnoten und Eingangstests veranschlagen sie nicht allzu hoch.

Denn dem demokratischen Menschenbild zufolge kann und soll die Vergangenheit des Einzelnen seine Zukunft nicht festlegen. Ablehnungen bedeuten deshalb nicht viel. Es steht jedem frei, sich bei einer anderen Hochschule zu bewerben. Und laufend werden neue gegründet. Berichtet man Amerikanern, dass in Deutschland Bildungspolitiker im Namen des Begabungsglaubens gegen die Hochschulexpansion opponieren, stößt man auf ungläubiges Erstaunen und Befremden.

Die Sachwalter der Hochschulen in Deutschland plagen sich und andere mit der Vorstellung, die Entwicklung des Hochschulwesens müsse dem wirtschaftlichen Qualifikationsbedarf folgen. Amerikaner gehen dagegen von der Vorstellung einer offenen Gesellschaft aus. Danach können die Einzelnen über ihre Lebensverhältnisse autonom verfügen. Bildung soll ihnen helfen, Grenzen zu überschreiten. Damit verbunden ist das liberale Credo: Je gebildeter jeder Einzelne, umso zivilisierter ist die Gesellschaft insgesamt.

Diese Überzeugungen drücken sich auch in der Struktur des Hochschulwesens aus. Die Hochschulen stimmen in dem Ziel überein, autonome Bürger zu formen. Deswegen kommt Abgrenzungen zwischen den Hochschultypen nur wenig Bedeutung bei.

Die Regelstudienzeit ist das wichtigste Gliederungsmerkmal des Systems. Man kann Abschlüsse nach zwei, vier, sechs oder acht Jahren erlangen. In der Struktur des deutschen Bildungswesens finden sich dagegen noch erhebliche Reste ständischer Ungleichheit, die energisch verteidigt werden. So wachen die Sachwalter der Universität eifersüchtig darüber, dass die Erfahrung der akademischen Freiheit das Privileg weniger bleibt.

Das wissenschaftliche Studium wird durch die Erfahrung des Campuslebens ergänzt. Ihr messen viele Amerikaner sogar eine größere Bedeutung für ihre Bildung zu als dem Unterricht. Die Collegestudenten unterliegen für eine gewisse Zeit einer Residenzpflicht auf dem Campus. In der Gemeinschaft mit ihren Kommilitonen werden sie zu Erwachsenen, hier wird ihre Entwicklung mit Ritualen und Festen gewürdigt, hier gewinnen sie Freunde und finden nicht selten auch ihren Ehepartner.

Ihrem College fühlen sie sich in Dankbarkeit ein Leben lang verbunden. Diese Beziehung erklärt ihre großzügigen Spenden und Stiftungen, mit denen sie ihre Hochschulen ausstatten. Die sehr persönliche Bildungserfahrung in den amerikanischen Hochschulen sticht scharf ab von derjenigen, die in Deutschland im Begriff des "Rohstoffs Bildung" zum Ausdruck kommt.

Das US-Hochschulwesen, so das dritte Zerrbild, sorge mit Konkurrenzmechanismen für größere Produktivität. Tatsächlich konkurrieren die Hochschulen, aber zu ihrer Produktivität trägt das wenig bei. Man kann das mit Sicherheit behaupten, denn dies ist gut untersucht. Das durchschnittliche Leistungsniveau der Studenten unterscheidet sich von College zu College, aber der Netto-Leistungszuwachs zwischen Immatrikulation und Abschluss ist in allen weit gehend gleich.

Die Konkurrenz der Colleges um Geld und Talente zeitigt vor allem einen Verteilungseffekt: Wer hat, dem wird gegeben. Hochschulen sind besonders erfolgreich, wenn sie eine privilegierte Stellung haben und ein großes Stiftungsvermögen besitzen. Sie stoßen dann auf eine besonders große Nachfrage und können besonders aussichtsreiche Studenten auswählen. Aber sie wuchern mit ihrem Pfund nicht produktiver als die ärmere Konkurrenz.

Die Relation von Aufwand und Ertrag ist in den renommierten privaten Universitäten sogar besonders ungünstig. Ihr Prestige gestattet ihnen besonders hohe Einnahmen mit dem Charakter von Monopolrenten. Der ökonomisch irrationale Charakter der Hochschulbildung zeigt sich auch in folgenden Ergebnissen der Hochschulforschung: Die Absolventen eines herausragenden und teuren Colleges erzielen in der Regel kein höheres Einkommen als die eines durchschnittlichen Colleges, es sei denn sie nehmen ein Graduiertenstudium auf.

Es trifft auch nicht zu, dass sich das Führungspersonal der amerikanischen Gesellschaft vor allem aus Elite-Universitäten rekrutiert. Das ist schon deswegen nicht möglich, weil die Zahl ihrer Absolventen dafür viel zu gering ist.

Das amerikanische Bildungswesen, so ergibt sich, ist insgesamt weniger selektiv als das deutsche. Die Hochschulen stimmen in universalistischen Bildungsvorstellungen überein und entsprechen damit der bürgerlichen Gleichheitsnorm besser als die noch ständisch gegliederte tertiäre Bildung in Deutschland. Und die Konkurrenz zwischen den Hochschulen trägt zur Produktivität des Lehrens und Lernens nichts bei. Deutsche Hochschulpolitiker können von den amerikanischen Hochschulen viel lernen. Als Berufungsinstanz für vordemokratische Bildungsvorstellungen taugen sie aber nicht.

Der Autor ist Hochschulforscher an der Universität Halle/Wittenberg. Er hat am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und an der Stanford University in Kalifornien gelehrt und geforscht. Im VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) veröffentlichte er die Studie "Hochschulen in Deutschland und in den USA. Deutsche Hochschulpolitik in der Isolation".

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