Ärzte:Anwerben bis zum Pazifik

Weil in Deutschland Ärztemangel herrscht, sind die Krankenhäuser verstärkt auf ausländische Kräfte angewiesen.

Von Heidrun Graupner

(SZ vom 11.9.2003) Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, rechnet nicht mit einer schnellen Umsetzung des Arbeitszeit-Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Krankenhäusern. "Wenn wir realistisch denken, auch was die Kosten angeht, dann werden wir erst Ende dieses Jahrzehnts normale Bedingungen in den Krankenhäusern haben,", sagte Hoppe der Süddeutschen Zeitung. Der EuGH hatte am Dienstag entschieden, dass der ärztliche Bereitschaftsdienst in vollem Umfang Arbeitszeit und nicht Ruhezeit ist. Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Burghard Rocke, geht davon aus, dass mit diesem Urteil in den 2240 Kliniken für insgesamt 1,75 Milliarden Euro 27.000 neue Arztstellen sowie 14.000 Jobs für weiteres Personal geschaffen werden müssten. Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Marburger Bundes, sprach von 15.000 Arztstellen und von einer Milliarde Euro Kosten.

Nach der vom EuGH geforderten Änderung des Arbeitszeitgesetzes wird es eines der größten Probleme sein, auch nur einen Teil dieser Stellen zu besetzen. In Deutschland herrscht Ärztemangel, der sich in den vergangenen zwei Jahren gravierend verschärft hat. In den Krankenhäusern fehlten derzeit 4800 Ärzte, sagten Rocke und Montgomery in Berlin. Auf dem flachen Land sehe es düster aus, meinte Rocke, "aber wir konnten keine Mediziner über den Brenner locken". In den ostdeutschen Ländern, sagte Hoppe, arbeiteten bereits polnische oder tschechische Ärzte, was wiederum Löcher in die polnische Ärzteschaft reiße. So würden in Polen Ärzte aus Rumänen oder Bulgarien angeworben. "Irgendwann landen wir auf diese Weise am Pazifik."

Industrie statt Praxis

Nach Untersuchungen der Personalberatung Kienbaum kann derzeit jede zweite Klinik Arztstellen nicht mehr besetzen, in Ostdeutschland sind es 76 Prozent aller Krankenhäuser. Immer weniger Studenten arbeiten als Ärzte, die Zahl der Approbationen ging seit 1997 um 22 Prozent zurück, die der Facharztanerkennungen um 25 Prozent. 40 Prozent der Studenten sind sich sicher, später nicht in der Praxis zu arbeiten, sondern in der Industrie oder im Management.

Außerdem gehen viele Ärzte ins Ausland, weil ihnen etwa in Norwegen eine 35-Stunden-Woche bei sehr viel besserer Bezahlung geboten wird. Aus europäischen Ländern Ärzte nach Deutschland zu locken, ist daher kaum möglich.

Große Defizite existieren nach den Worten von Hoppe auch bei den niedergelassenen Ärzten, vor allem in Ostdeutschland. Der Verband der niedergelassenen Ärzte Virchow-Bund befürchtet, dass das EuGH-Urteil diese Situation noch verschärfen werde, da angesichts des Mangels künftig sehr viel weniger Nachwuchs aus den Kliniken in den ambulanten Bereich wechseln werde. Der Mangelberuf Arzt - die Arbeitslosenquote beträgt zwei Prozent, bei Fachärzten ein Prozent - hat allerdings das Interesse am Medizinstudium wieder geweckt: Die Zahl der Studienbewerber stieg im Vergleich zu 2002 um 21 Prozent.

"Wir haben keine 15.000 Ärzte, die wir einstellen könnten", erklärte Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). Sie fügte optimistisch hinzu: "Und wir wissen auch nicht, ob wir sie brauchen." Die Ministerin, aber auch Vertreter der Krankenkassen halten die Förderung neuer Arbeitszeitmodelle mit 700 Millionen Euro bis 2009 für ausreichend, da es beträchtliche Wirtschaftlichkeitsreserven und Überkapazitäten gebe.

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