"Whistleblower"-Prozess:Gefeuerte Altenpflegerin bekommt Abfindung

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Eine Altenpflegerin zeigt ihren Arbeitgeber wegen Pflegemissständen an - und wird dafür gekündigt. Der Prozess schlägt Wellen bis nach Straßburg - und muss dann noch einmal in Berlin verhandelt werden. Das Finale im Gerichtssaal ist dramatisch.

Tränen im Gerichtssaal, Wutausbrüche und ein Richter mit starken Nerven: Es ist das letzte Kapitel im Kampf der Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch (50) gegen ihre fristlose Kündigung. Doch die emotionale Verhandlung vor dem Berliner Landesarbeitsgericht hat eine zweite und dritte Ebene.

Die Altenpflegerin Brigitte Heinisch und ihr Anwalt Benedikt Hopmann vor dem Berliner Landesarbeitsgericht: Der Frau war im Jahr 2005 von ihrem Arbeitgeber Vivantes gekündigt worden, weil sie Pflegemissstände in dem Unternehmen angezeigt hatte. (Foto: dpa)

Es geht um das Recht von Angestellten, Skandale in ihrem Unternehmen öffentlich zu machen ("Whistleblowing"). Und es geht um die Zustände in einem Pflegeheim des landeseigenen Berliner Klinikkonzern Vivantes, der 2004 mehr als 100 alte Menschen mit viel zu wenig Fachkräften alleingelassen haben soll - vor allem nachts.

Der Rechtsstreit ist am Donnerstag beigelegt worden. Die Wunden sind noch nicht verheilt.

90.000 Euro Abfindung und eine ordentliche Kündigung - nach fünf Stunden Verhandlung bangt nicht nur der Richter Martin Guth, ob Brigitte Heinisch den mühsam errungenen Vergleich annehmen wird. "Warum drohen Sie mir?", hat sie ihm zuvor an den Kopf geworfen. Und später "Was wollen Sie denn?" zu den Rechtsvertretern ihres alten Arbeitgebers hinüberrufen.

Für viele im Gerichtssaal ist Brigitte Heinisch nicht irgendwer. Sie hat im Sommer 2011 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht bekommen. Denn in der fristlosen Kündigung sahen die Straßburger Richter eine Verletzung der Meinungsfreiheit. Das Urteil zog weite Kreise. Im Klartext bedeutete es: "Whistleblower", die Skandale in Behörden oder Unternehmen öffentlich anprangern, dürfen nicht einfach hinausgeschmissen werden.

Trotz des Straßburger Triumphs ist es in Berlin noch einmal ein Treffen wie David gegen Goliath. Die fristlose Kündigung ist noch nicht vom Tisch. Auf der einen Seite sitzt ein millionenschwerer öffentlicher Gesundheitskonzern. Dessen Anwälte sagen selbstsicher, der EGMR habe nicht Missstände bei Vivantes kritisiert - sondern das Urteil des Landesarbeitsgerichts.

Auf der anderen Seite steht eine Altenpflegerin mit kleinem Einkommen, die Sätze sagt wie: "Da wurden Wohnbereiche über Stunden alleingelassen, verstehen Sie? Wir reden hier über Menschen und nicht über Kürzel." Eine Insiderin, die bemerkt haben will, wie alte Menschen auf 33 Kilo abmagern und von Januar bis April nicht geduscht werden. Es sind Vorwürfe, die sogar der Richter kommentiert: "Offenbar sind das hier massive Probleme."

Brigitte Heinisch geht 2004 zum Staatsanwalt und zeigt ihren Arbeitgeber an. Sie nennt es Betrug. Betrug am Kunden Senior, der für Leistungen gezahlt habe, die nicht erbracht wurden, weil Pflegekräfte sie aus Zeitnot nicht erbringen konnten. Richter Guth will Heinisch in diesem Punkt nicht folgen. Er will konkrete Aussagen über Abrechnungsbetrug. Das sei etwas anderes als purer Pflegemissstand.

Volkes Seele bangt auf den Zuschauerrängen mit, es gibt Beifall für Heinisch und Unmutsgemurmel für ihre Gegner. Es ist Berlin live. Unter den Zuschauen sitzt Kassiererin "Emmely", die 2008 fremde Pfandbons für 1,30 Euro eingelöst haben soll und deshalb fristlos gefeuert wurde. Sie klagte - und bekam 2010 in der dritten Instanz Recht. Sie sitzt wieder an der Kasse.

Brigitte Heinisch wirkt wie eine Mischung aus Jeanne d'Arc und einer verletzlichen Frau, die viel verloren hat, ihren Job und vor allem jede Menge Nerven. Sie ist nah am Wasser gebaut. Die Verhandlung wird mehrfach unterbrochen. Es ist der Richter, der beiden Parteien immer wieder eindringlich einen Vergleich nahelegt. Der Rechtsstreit könnte sonst über Jahre weitergehen.

Vivantes hat den Vorwurf des Betrugs und auch den Pflegemissstand stets dementiert. Der Konzern bietet 80.000 Euro Vergleichssumme, erhöht dann doch noch auf 90.000 brutto. Ein Durchbruch kündigt sich an. Da sagt Kassiererin Emmely laut: "Brigitte, das ist ein faules Ei." Sogar Heinischs Anwalt wird starr, die Sitzung zum fünften Mal unterbrochen.

Am Ende stimmt Heinisch doch zu. "Es gibt wenige Menschen, die einen solchen Kampf durchhalten", sagt Anwalt Hopmann später. "Das ist bewundernswert." Der Satz, auf den Brigitte Heinisch jahrelang gewartet hat, fällt beinahe nebenbei. "2004 gab es Probleme. Das bestreiten wir nicht", sagt einer der Vivantes-Anwälte.

© dpa, Ulrike von Leszczynski/wolf - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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