360-Grad-Feedback:Wie findet ihr mich?

Bei der Rundum-Beurteilung dürfen Kollegen und Mitarbeiter sagen, was sie von ihrem Chef halten. Doch diese Methode allein nützt wenig, wenn sich Führungskräfte richtig einschätzen wollen.

Sabine Hildebrandt-Woeckel

Die Sache war gut gemeint. Um seinen Mitarbeitern zu zeigen, dass er sich für ihre Belange interessiert, ging Friedrich Rummel, Human-Resources-Manager der Allianz Elementar Versicherungs-AG in Österreich, jeden Tag gemeinsam mit ihnen zum Mittagessen. Jedesmal suchte er sich eine neue Gruppe, stellte Fragen zum Arbeitsalltag und hörte zu. "Ich fühlte mich wirklich gut dabei", sagt Rummel.

Um so überraschender traf ihn das Ergebnis des 360-Grad-Feedback, das er selbst eingeführt hatte. "Wie im Examen" hatten sich seine Mitarbeiter mittags in der Kantine gefühlt und immer gehofft, dass er mit seinem gefüllten Tablett an ihnen vorüberziehen würde. Rummel: "Darauf wäre ich in hundert Jahren nicht gekommen."

Banal eigentlich, aber doch Alltag in vielen Firmen. "Es gibt immer mehrere Blickwinkel, aus denen man etwas betrachten kann", sagt Reinhold Kura, Leiter Personalförderung bei der LBS in München. Die Sichtweise der anderen kennen zu lernen und gemeinsam Lösungen zu finden - das ist für ihn daher das Ziel des 360-Grad-Verfahrens.

Das Verhalten von Führungskräften loben und kritisieren normalerweise nur deren Vorgesetzte. Beim 360-Grad-Feedback werden dagegen Einschätzungen aus dem gesamten beruflichen Umfeld zusammen getragen.

Bei der LBS wie bei der Allianz sind dies neben Mitarbeitern und Kollegen auf gleicher Ebene auch interne Kunden, die zur Standortbestimmung herangezogen werden. Und natürlich geht es dabei weniger um die Modalitäten gemeinsamer Mittagspausen als um Kommunikations- und Führungsqualitäten.

Am Ende erhält der Betroffene eine umfassende Rückmeldung, wie andere ihn sehen, und kann dies mit seiner eigenen Selbsteinschätzung vergleichen.

Die Deutsche Lufthansa AG, bei der das Verfahren online abgewickelt wird, geht in diesem Punkt sogar noch weiter. Per Mausklick erfahren die Führungskräfte, wie sie von ihrem Umfeld gesehen werden. Und sie können sich darüber informieren, wie ihre Werte im Vergleich zu anderen Führungskräften der Abteilung oder sogar des Konzerns liegen, erklärt Sylvia Branke, Leiterin Führungskräfteentwicklung Strategie. Seit sechs Jahren gibt es das 360-Grad-Feedback bei der Frankfurter Fluggesellschaft - und damit für deutsche Verhältnisse schon recht lange.

Die ersten Experimente begannen zwar schon in den achtziger Jahre, erklärt Petra Weider, deren Bad Homburger Beratungsunternehmen zu den ersten gehörte, die 360-Grad-Feedback in Deutschland etablierten. Dennoch herrscht immer noch Skepsis vor. "Die Rundum-Beurteilung ist eine Illusion", glaubt beispielsweise Management-Trainer Reinhard Sprenger. "Sie setzt eine machtfreie Offenheit voraus, die es im Geschäftsalltag nicht gibt."

Wie findet ihr mich?

Ganz falsch liegt Sprenger damit offenbar nicht. Große Sorgen und Ängste bei allen Beteiligten habe er erlebt, meint auch Friedrich Rummel, als das Instrument vor vier Jahren bei der Allianz etabliert wurde. Nicht einmal am Computer wollten die Mitarbeiter zunächst ihre Feedback-Bögen ausfüllen, aus Angst, der Administrator könnte am Ende doch nachvollziehen, wer welche Beurteilungen abgegeben hat.

Und nicht nur die Feedback-Geber haben Angst vor Konsequenzen, auch manche Feedback-Nehmer zittern. Mitunter durchaus zu Recht, wie Petra Weider weiß. "Natürlich gibt es Firmen, die solche Verfahren dazu nutzen, unliebsame Mitarbeiter und Führungskräfte auszusortieren. Allerdings sei dies nicht im Sinne des Erfinders. Ausdrücklich rät sie darum Firmen, in denen vorwiegend Personal abgebaut wird, vom Einsatz der Methode ab.

Denn im eigentlichen Sinne, so Weider, ist das 360-Grad-Feedback kein klassisches Beurteilungs-, sondern ein reines Entwicklungsinstrument. Damit es funktioniert, darf das Ergebnis daher weder an Entgelt- noch an KarriereEntscheidungen gekoppelt sein.

"Für solche Entscheidungen stehen uns andere Instrumente zur Verfügung", sagt Sylvia Branke von der Lufthansa. Auch bei der Allianz Elementar, der LBS und dem Pharmakonzern Bayer gibt es keine Verbindungen zwischen dem 360- Grad-Feedback und der Mitarbeiterbeurteilung. Seit 2002 setzen die Leverkusener das Instrument für die Entwicklung ihrer Leitenden Mitarbeiter ein. Das volle Ergebnis erhält nur der Betroffene selbst. Allerdings mit der Aufforderung, zumindest die Zusammenfassung mit seinem Vorgesetzten zu besprechen, und der Empfehlung, die Ergebnisse auch mit seinen Mitarbeitern zu diskutieren.

"Kleinlich nachgehakt wird da zwar nicht", sagt Franz Loschert, Director Human Resources bei Bayer. Doch schon allein wegen des Gesamtprozesses seien die Führungskräfte sensibilisiert. Denn wirklich sinnvoll sei das Verfahren nur, wenn hinterher mit dem Ergebnis auch gearbeitet werde. Eine Einschätzung, die LBS-Mann Kura teilt. Vier Seiten mit ein paar Kurven, seien zwar ganz nett, meint er, "aber dann geht die Arbeit erst richtig los." Kura hält darum auch nichts davon, dass viele Firmen besonders die Anonymität des 360-Grad-Verfahren loben. "Entscheidend ist, dass miteinander geredet wird."

Petra Weider stimmt ihm zu: Nur mit einem "glaubwürdigen und ernsthaften Prozess", der möglichst auch extern begleitet werde und sicher stelle, dass der Betroffene das Feedback auch annimmt, mache das Verfahren Sinn. Genau da aber liegt das Problem. Große Firmen wie Bayer, die Lufthansa oder die Allianz geben den Feedback-Nehmern zwar die Möglichkeit, zum entscheidenden Gespräch einen externen Moderator oder Coach hinzuzuziehen. Wie fast alle Firmen bauen sie dabei jedoch auf Freiwilligkeit und bieten damit all jenen Managern Schlupflöcher, die sich mit der Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild nicht befassen wollen.

Ein Punkt, den auch Verfechter Friedrich Rummel durchaus sieht. Dennoch hat sich die anfängliche Skepsis bei der Allianz längst gelegt. Immer mehr Führungskräfte begreifen die Chance auf Veränderung, die das Feedback und die damit verbundene Unterstützung durch das Unternehmen bietet. "Inzwischen brennen viele geradezu darauf, ihre Feedback-Berichte mit den Mitarbeitern zu besprechen, um noch mehr zu erfahren."

Ein Instrument für alle Firmen ist das 360-Grad-Feedback dennoch nicht, betont die Expertin Weider - und das nicht nur wegen des großen Aufwands, der in jedem Fall damit verbunden ist. Die Kultur müsse stimmen - und alle müssten es wirklich wollen.

Etwa 40 Prozent aller international tätig Unternehmen arbeiten bislang in Deutschland mit dem Verfahren. Tendenz: nur langsam steigend. "Leider", findet Allianz-Mann Rummel. Er geht übrigens noch immer mit seinen Mitarbeitern essen. Inzwischen jedoch - so wünschten es sich die Kollegen - steht das Private im Mittelpunkt.

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