Zwischen Wissen und Glaube:Der ahnungslose Patient

"Wissen ist die beste Medizin", heißt es. Doch es ist schwierig, an verlässliche Gesundheitsinformationen zu kommen, die Suche nach Wissen in der Medizin führt unentrinnbar zu Wissen, das diese Bezeichnung nicht verdient. Und das gilt besonders in Deutschland.

Gerd Antes, Deutsches Cochrane-Zentrum in Freiburg

Glaubt man Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Politik, dann leben wir in der Wissensgesellschaft. Tausende Treffer bei Google zeigen, dass die Bedeutung vom "Rohstoff Wissen" zumindest in Diskussionen zunimmt. Dabei wird immer wieder die enorme Bedeutung dieses Rohstoffs für die Zukunft unserer rohstoffarmen Gesellschaft betont. Wissen wird dabei vor allem mit dem Arbeitsmarkt, Standorten und anderen ökonomischen Faktoren verbunden, besonders mit dem Schlagwort Innovation.

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Was hilft gegen welches Leiden - und wie gut sind die Informationen, auf die man bei der Suche nach Wissen in der Medizin stößt? Häufig ist das, was als Wissen dargestellt wird, nur falsch deklarierter Glaube.

(Foto: ddp)

Ganz anders der Google-Blick auf die Medizin. Nicht neues, sondern altes Wissen wird neu entdeckt - etwa die Verheißungen der Kräutermedizin, die zumeist nicht wissenschaftlich belegt sind. "Gesund durch Wissen" oder "Wissen ist die beste Medizin", wird zwar überall verkündet.

Ein Blick auf die Quellen zeigt jedoch, dass der Ratsuchende oft gezwungen ist, sich zwischen Glauben und Wissen zu entscheiden. Als besonders ergiebige Wissensquellen gelten Tradition und Erfahrung, obwohl die Vergangenheit zeigt, wie trügerisch dies sein kann. Ein drastisches Beispiel ist der Aderlass, der - mit Einwilligung der Patienten - Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende das Leben gekostet hat.

Die Suche nach Wissen in der Medizin führt unentrinnbar zu Wissen, das diese Bezeichnung nicht verdient, weil es falsch deklarierter Glaube ist. Denn wer Rationalität für sich in Anspruch nimmt, sollte auf relevante Daten, Fakten und das daraus erzeugte Wissen zurückgreifen können. Davon ist jedoch die Medizin, die sich auf ein wissenschaftliches Selbstverständnis beruft, weit entfernt. Die Annahme, dass es das Wissen in der Medizin gibt, ist einer der Hauptgründe für die stete Verwirrung.

Die Entwicklung von Arzneimitteln und nicht-medikamentösen Therapien dauert Jahre. Der Weg von der Idee zur Grundlagenforschung über klinische Studien am Menschen bis zum Routineeinsatz in der Gesundheitsversorgung ist lang. Während das Zeitalter der innovativen Therapieentwicklung Mitte des letzten Jahrhunderts einsetzte, hat die systematische Erforschung des Nutzens für den Menschen erst seit 15 Jahren mehr Aufmerksamkeit erfahren. Weltweit ist erkannt worden, wie groß die Verschwendung durch nicht genutztes Wissen, aber auch das Potential durch systematische Anwendung von Wissen ist.

Dank neuer Kommunikationstechnologien scheint der gezielten Nutzung von Wissen nichts im Wege zu stehen. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist jedoch, dass relevantes neues medizinisches Wissen zu hundert Prozent in Englisch publiziert wird. Da der globale Wissensaustausch längst Normalität ist, hat diese Entwicklung für hochwertige Wissenschaft zwar kaum negative Folgen. Der globale Wissenspool in englischer Sprache ist jedoch eine ernsthafte Bedrohung für die Versorgung im medizinischen Alltag in nicht englischsprachigen Ländern.

Nicht auf einzelne Studien vertrauen

Es bedarf aufwendiger Rücktransfers der Studienergebnisse. Das klingt einfacher, als es ist. Niemand kennt die Zahl der abgeschlossenen, vergleichenden Therapiestudien. Bisher sind weltweit 600.000 randomisierte kontrollierte Studien in der Cochrane Library (www.cochranelibrary.com) erfasst. Jede Angabe zu einer Obergrenze ist Spekulation, weil nur 50 Prozent der durchgeführten klinischen Studien publiziert werden. Insofern kann die Zahl auch doppelt so hoch sein.

Sie kann weit darüber liegen durch nicht in englischer Sprache verfasste Studien, die nicht in der global verfügbaren Wissenswelt der Medizin auftauchen. Eine Folge aus diesen Zahlen ist: Unsicherheit. Die scheinbar so geordnete Welt der klinischen Studien stellt sich aus der Perspektive der global vorhandenen Forschung als erstaunliches Chaos dar, in dem oft nicht einmal die Größenordnung des vorhandenen Wissens ausgemacht werden kann.

Auf einzelne Studien zu vertrauen, ist daher fehlerträchtig. Um medizinische Verfahren zu bewerten, verbietet sich die willkürliche Berücksichtigung nur weniger Studien. Aus diesem Grund wurde in den 1980er-Jahren begonnen, alle zu einer medizinischen Fragestellung verfügbaren Studien in systematischen Übersichtsarbeiten zusammenzufassen.

Die Cochrane Collaboration, ein seit 1993 auf 30.000 Personen angewachsenes globales Netzwerk, leistete hier Pionierarbeit. Die Datenbank Cochrane Library umfasst inzwischen 4695 abgeschlossene und 2025 in Vorbereitung befindliche Arbeiten.

Das Konzept der systematischen Übersichtsarbeit hat sich in den vergangenen 20 Jahren durchgesetzt. Das aus Studien vorhandene Wissen wird aufbereitet und verdichtet, um die Grundlage für die medizinische Anwendung zu liefern. Systematische Übersichtsarbeiten sind fundamentale Bausteine für klinische Leitlinien. Sie helfen Ärzten bei der Entscheidung für oder wider eine Therapie, werden auch von Kranken, Angehörigen und Politikern herangezogen, auch wenn sie oft kaum verständlich sind.

Für die Gesundheitsberufe ist die Beschaffung verlässlicher Information schwierig, für Patienten und Angehörige oft aussichtslos. Auf der einen Seite werden sie im Internet überschüttet mit medizinischen Empfehlungen, die besser nicht dort stünden.

Auf der anderen Seite gibt es ernsthafte Versuche, den Informationsozean aus englischsprachigen Zeitschriften fachlich richtig in deutscher, laienverständlicher Sprache im Internet zu präsentieren. Qualität zu erkennen, stellt Patienten vor unlösbare Probleme.

Die zarten Pflänzchen auf dem richtigen Weg (www.gesundheitsinformation.de oder www.patienten-information.de oder auch www.krebsinformationsdienst.de) sind hoffnungsvolle Ansätze, die jedoch meilenweit entfernt sind von einem Gesundheitsinformationssystem, das einem reichen Land mit 82 Millionen Einwohnern gerecht wird.

Die Welt der Studien mit ihren Statistiken und Unsicherheiten mag als Nebenpfad erscheinen, der vor allem die Forschung betrifft. Tatsächlich werden jährlich Millionen Menschen innerhalb klinischer Studien behandelt, während eine um ein Vielfaches höhere Zahl an Patienten darauf wartet, von den Ergebnissen zu profitieren.

Dass es wichtig ist, den Nutzen medizinischer Verfahren durch systematische Zusammenfassung von Studien zu erkennen und die Verbreitung dieses Wissens zu beschleunigen, liegt auf der Hand. Etliche Länder haben diesen Anspruch vor Jahren formuliert. Neue Institutionen und Investitionen haben in vielen Ländern Strukturen geschaffen, die den Weg des Wissens vom Studienteilnehmer zum Patienten verbessern.

"Knowledge Translation"

"Knowledge Translation" ist das Schlagwort, unter dem diese Konzepte konsequent weiterentwickelt werden.

An erster Stelle sind die USA zu nennen, die 2009 eine Milliarde Dollar bereitstellten, um Therapieverfahren zu vergleichen (www.ahrq.gov). Als eine der führenden Denkfabriken weltweit hat das Institut of Medicine im März 2011 die entscheidende Frage betont: "Finding What Works in Health Care: Standards for Systematic Reviews" - Was wirkt in der Gesundheitsversorgung, Standards für systematische Übersichtsarbeiten. Kanada und Großbritannien haben in den National Institutes of Health Research entsprechende Strukturen geschaffen.

Australien ist mit dem National Health and Research Council auf dem gleichen Weg. Doch wichtiger als Wissen sind oft Wissenslücken. Folgerichtig hat Großbritannien eine Datenbank der Unsicherheiten entwickelt (www.library.nhs.uk/duets), um zu erkennen, welche Forschung Priorität haben sollte.

Diese Aktivitäten stammen aus dem englischsprachigen Raum. Norwegens Knowlegde Centre for Health Services (www.nokc.no) mit 130 Stellen und 18 Millionen Euro jährlich ist unter den anderen Ländern am weitesten damit, das eigene Land mit Wissen zu versorgen. So vermittelt die Norwegian Electronic Library of Health der Bevölkerung Zugang zum globalen Wissen.

Im Mittelpunkt steht immer die Frage: Wie finde ich die für mein Problem relevanten Studien? Dafür leisten ein Projekt der McMaster Universität (Kanada) und des British Medical Journal wertvolle Dienste. Dort werden regelmäßig 110 führende Zeitschriften durchsucht. Gefundene Studien werden von einer riesigen Gutachtergruppe (4000 Ärzte, 3000 Pflegekräfte, 1000 in der Rehabilitation Tätige) nach Relevanz und Neuigkeitswert eingestuft und in Kurzfassung an eingetragene Nutzer per Mail versendet.

Der kostenfreie Dienst "Turning Research Into Practice" (www.tripdatabase.com) ist als Google für medizinische Interventionen zu verstehen - und bietet Treffer gruppiert nach der Qualität der Information. Neuerdings ist Google Translate in das Programm eingebettet, so dass Texte automatisch übersetzt werden. Allerdings müssen Suchbegriffe weiter in Englisch eingegeben werden und die deutschen Text sind sprachlich noch fürchterlich.

Deutschland ist in diesem Feld das, was man in der Fliegerei ein No-Show nennt - es taucht nicht auf. Weder bei der Wissensgenerierung noch bei der Organisation der Wissensnutzung fällt das Land positiv auf. Das kann angesichts der geringen investierten Summen nicht überraschen. Deutschland hatte in der patientenorientierten Forschung nie eine Vorreiterrolle, jetzt scheint der endgültige Abschied eingeläutet zu werden.

Besonders unverständlich ist das Verhalten des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Auf der einen Seite gehen dreistellige Millionenbeträge in die Erforschung von Volkskrankheiten, für deren Auswahl keine wissenschaftliche Begründung gegeben wird. Auf der anderen Seite wird darüber nachgedacht, mit dem Förderprogramm für klinische Studien eine Erfolgsgeschichte zu beenden.

Dabei ist solche Förderung unbedingt nötig, um den Abstand zu den medizinisch führenden Wissensnationen nicht noch größer werden zu lassen. Der Trend, in Grundlagenforschung und Theorie zu investieren und zu glauben, dass sich so die Gesundheitsversorgung automatisch verbessere, weist zurück in die 1980er-Jahre.

Er steht zudem in Kontrast zu der Entwicklung in anderen Ländern. Wie Eckpfeiler einer zukunftsträchtigen Entwicklung aussehen sollten, zeigt der Blick in die Zukunft (www.esf.org/flip) der European Science Foundation. Der Unterschied zum deutschen Rahmenprogramm könnte größer kaum sein.

Gerd Antes ist Direktor des Deutschen Cochrane-Zentrums in Freiburg, das die Güte medizinischer Studien bewertet.

(Weitere empfohlene Links: cochrane.de, ebm-netzwerk.de, patienten-universitaet.de)

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