Zunahme psychiatrischer Diagnosen:Depressives Bayern?

Die Kassen klagen über immer mehr Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen: Elf Prozent der Bayern sind laut einem aktuellen Bericht depressiv. Ein Grund zur Besorgnis? Nicht wirklich.

Ein Kommentar von Christian Weber

So langsam scheinen es auch die Krankenkassen zu kapieren. Nein, die Zahl der psychisch Erkrankungen in Deutschland nimmt nicht dramatisch zu. Auch wenn sich einige Medien jetzt wieder knallige Zahlen aus dem soeben veröffentlichten BKK Gesundheitsatlas 2015 herausgepickt haben: Die Zahl der Krankentage wegen psychischer Leiden in Deutschland habe sich seit 2003 verdoppelt. Alarm! Besonders schlimm sei es in Bayern, wo die Ärzte im Jahr 2013 exakt 11,4 Prozent der BKK-Versicherten wegen einer Depression krankschrieben. Im bekannt heiteren Osten waren es - mit Ausnahme von Berlin - durchweg einige Prozentpunkte weniger.

Tatsächlich erklärten die Vertreter der BKK bei der Präsentation des Berichts zu Recht, dass sich der Zuwachs in der Statistik vor allem dadurch erklärt, dass Patienten mit psychischen Störungen sich heute eher helfen lassen. Auch kennen sich die Ärzte dank der massiven Aufklärungskampagnen der letzten Jahre besser aus. Wo sie früher aus Verlegenheit Schlafstörungen oder Rückenschmerzen diagnostizierten, erkennen sie heute eine zugrunde liegende Depression. Es steigt also nicht die Zahl der Erkrankungen, sondern die Zahl der Diagnosen.

Schätzungen zufolge werden weniger als ein Drittel der psychisch Kranken behandelt

Endlich kommt in der Praxis an, was die Epidemiologen seit Langem sagen: Psychische Störungen haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht stark zugenommen; es sind nicht die aktuellen, angeblich so kalten Verhältnisse in Wirtschaft und Gesellschaft, die vermehrt seelisches Leid verursachen.

Es ist nicht neu, dass etwa 14 Prozent aller Europäer einmal im Jahr an Angststörungen leiden oder sieben Prozent an unipolaren Depressionen. Zwar darf man vermuten, dass es insbesondere bei Depressionen auch zu Überdiagnosen kommt, manch gut gemeinter Screening-Test bescheinigt vorschnell eine Störung. Aber das größere Problem ist immer noch, dass viele Erkrankungen nicht erkannt werden und noch seltener nach dem Stand der Wissenschaft therapiert werden. Schätzungen zufolge werden weniger als ein Drittel der psychisch Kranken überhaupt behandelt.

So sind wohl auch die hohen Prozentwerte für die Bayern und die niedrigen für die neuen Länder zu erklären - Sachsen und Sachsen-Anhalt melden Depressions-Raten von nur 7,2 Prozent. Es ist unwahrscheinlich, dass in Bayern 50 Prozent mehr Depressive leben. Vielmehr finden Betroffene dort eher einen Psychiater oder Psychotherapeuten.

Wer die Lage der psychisch Kranken verbessern will, sollte deshalb auch nicht übermäßig über die Burn-out-Gesellschaft lamentieren. Mindestens genauso wichtig ist es, schlicht die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland zu verbessern.

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