Weltaids-Konferenz:"Die Leute haben sich von Skeletten in menschliche Wesen verwandelt"

UN will Aids ausmerzen

Noch vor fünfzehn Jahren warnten Wandzeichnungen: Aids ist tödlich. Hier in Soweto, Johannesburg.

(Foto: Kim Ludbrook/epa; picture alliance/dpa)

In Südafrika reagierten einst Aids-Leugner - mit katastrophalen Folgen für das Land. Heute bekommen Millionen Menschen Medikamente gegen ihre HIV-Infektion. Ein Besuch.

Von Christoph Behrens, Durban

An einem Tag im September vor sechs Jahren liegt Andile (Name geändert) krank im Bett, Schmerzen im ganzen Körper lassen die damals 15-Jährige nicht schlafen. Ihr Bauch fühlt sich "wie durchlöchert" an. Ihre Mutter trägt sie ins Krankenhaus und lässt sie testen. Die Tochter ist HIV-positiv, so wie sie selbst und auch ihr Sohn.

"Vermutlich bin ich seit der Geburt infiziert", sagt Andile heute, eine freundliche junge Frau mit dunklen Augen, gestreiftem Pullover und zusammengebundenen Haaren. Die Südafrikanerin sitzt auf einer hügeligen Wiese im Ort Hibberdene, südlich der Millionenmetropole Durban, schaut auf das Meer und schmiedet Pläne. Die Schule ist bald zu Ende, dann will sie studieren, am liebsten Sportjournalismus. Und sie möchte reisen: zu Fußballweltmeisterschaften, nach Paris, in die USA, am besten mit ihrem Freund. Aber erstmal freut sie sich auf das Wochenende im "Camp Sizanani", einem Ferienlager für etwa 60 HIV-positive Jugendliche in Hibberdene. Gemeinsam mit ihren Freunden wird Andile singen, Fußball spielen, Theaterstücke proben, und Zukunftspläne austauschen.

Noch Anfang des Jahrhunderts wäre Andile und ihren Freunden kaum Zeit zum Träumen geblieben. Das Auftreten von Aids-Symptomen war damals ein sicheres Todesurteil. "Diese Kinder sind unsere Überlebenden", sagt Tappie Cairns von der Don-McKenzie-Klinik in Durban. Die Ärztin begleitet viele der dort betreuten Jugendlichen seit Jahren. Andile hatte sehr viel Glück. Als sie die Diagnose bekam, verordnete das Krankenhaus sofort antiretrovirale Medikamente, seither nimmt sie eine Pille am Tag, um das Virus in Schach zu halten. Es ist zwar noch im Blut, doch in so geringen Mengen, dass für das Immunsystem keine Gefahr besteht.

Rund 3,4 Millionen Südafrikaner bekommen die Medikamente derzeit kostenlos, es ist das größte Programm dieser Art weltweit und hat Südafrika in den vergangenen Jahren massiv verändert. "Die Leute haben sich von Skeletten in menschliche Wesen verwandelt", sagt Cairns. So fit wie die Jugendlichen aussähen, könnten viele Besucher kaum glauben, dass sie HIV-positiv seien.

Südafrika und sein Umgang mit den insgesamt rund 6,8 Millionen HIV-Infizierten im Land wird diese Woche viel Aufmerksamkeit bekommen. Seit diesem Montag treffen sich mehr als 18 000 Delegierte, Politiker, Wissenschaftler, Aktivisten und Prominente im südafrikanischen Durban, um auf der Internationalen Aids-Konferenz über die globale HIV-Epidemie zu sprechen. Unter ihnen sind auch Prinz Harry und Elton John. Und Bill Gates, der ebenfalls in Südafrika weilt, hat am Sonntag verkündet, in den kommenden fünf Jahren mit seiner Stiftung weitere 4,5 Milliarden Euro in Afrika zu investieren.

Die Gesundheitsministerin empfahl Aids-Kranken damals Vitamine und rote Bete

Es ist ein Ort mit Symbolkraft: Hier in Durban rüttelte Nelson Mandela die Welt im Jahr 2000 auf, als erstmals eine Aids-Konferenz in Afrika stattfand. "Eine Tragödie nie dagewesenen Ausmaßes entfaltet sich in Afrika", sagte Mandela damals. Sie koste mehr Leben, "als alle Kriege, Hungersnöte und Überschwemmungen zusammen". 1,5 Millionen Menschen starben in jenem Jahr an Aids, 3,2 Millionen infizierten sich mit HIV - das Virus schien südlich der Sahara völlig außer Kontrolle zu geraten.

Der damalige Präsident Südafrikas, Thabo Mbeki, leugnete groteskerweise den Zusammenhang zwischen HIV-Infektion und tödlicher Aids-Erkrankung und heizte den Flächenbrand damit weiter an. Der amerikanische Geheimdienst CIA stecke hinter dieser "Verschwörung", behauptete Mbeki. Seine Gesundheitsministerin empfahl Aids-Kranken Vitamine und Rote Bete gegen die Symptome der Krankheit. Mit Schaudern erinnern sich Delegierte in Durban an die Folgen dieser Politik.

"Manche Großmütter hatten mehrere Beerdigungen von Enkelkindern in einer Woche, sie mussten sich entscheiden, auf welche sie gehen", sagt die südafrikanische Aktivistin Gethwana Mahlase. "Alle Fortschritte bei der Lebenserwartung in Afrika, nach 50 Jahren Entwicklung und Investitionen in die Gesundheitssysteme, waren verloren", sagt Chris Beyrer von der amerikanischen Johns Hopkins Universität in Baltimore und Präsident der Internationalen Aids Gesellschaft IAS. In Südafrika fiel die Lebenserwartung am Anfang des Jahrtausends auf weniger als 50 Jahre.

Aids-Konferenz: Demonstration

Demonstranten fordern auf der Weltaids-Konferenz in Durban, den Kampf gegen HIV und Aids zu intensivieren.

(Foto: Christoph Behrens)

Aids-Müdigkeit in weiten Teilen der Welt

Dieser Trend sei damals in Durban gestoppt worden, sagt Beyrer, hier sei der Welt das Ausmaß der humanitären Katastrophe erstmals klar geworden. In der Folgezeit machten die Industrieländer den armen Staaten lebensrettende Medikamente sehr günstig zugänglich, die Herstellung von Generika wurde erlaubt. Heute kostet eine antiretrovirale Therapie (ART) in einem Entwicklungsland weniger als 100 Dollar jährlich - im Jahr 2000 war es noch hundert Mal so viel. Südafrika hat zudem sein Gesundheitssystem massiv reformiert, mittlerweile werden zum Beispiel in Kreißsälen Mütter und Neugeborene routinemäßig auf HIV getestet.

Im Fachmagazin Science errechneten Forscher der Universität Harvard, dass die ART-Medikamente die Lebenserwartung von besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen innerhalb von acht Jahren um mehr als elf Jahre erhöht hat. Eine aktuelle Studie im New England Journal of Medicine zeigt, dass die ART das Risiko für eine sexuelle Übertragung des Virus um 93 Prozent reduziert. Weltweit haben nun 17 Millionen Menschen Zugang zu der Therapie.

Allerdings ist der Erfolg der Medikamente so groß, dass er nun der weiteren Bekämpfung von HIV im Weg stehen könnte. In reichen Ländern haben die Präparate dem HI-Virus viel von seinem Schrecken genommen - Betroffene können mittlerweile damit rechnen, mehr als 70 Jahre alt zu werden. Die IAS beklagt daher bereits eine "Aids-müde" Stimmung in den Industrieländern, zugleich fehlen mehrere Milliarden Fördergeld für arme Staaten.

Südafrikas Medikamenten-Kampagne reicht nicht, um die Dominanz des Virus zu brechen

Hinzu kommen politische Unsicherheiten wie jüngst der Brexit. Der Ausstieg der Briten aus der EU könnte auch einen schleichenden Abschied aus der Aidshilfe bedeuten, fürchtet Beyrer. Auf der anderen Seite wächst die Epidemie global gesehen weiter: Zwei Millionen Menschen infizieren sich jedes Jahr neu, 20 Millionen Menschen sind derzeit ohne jede Behandlung.

Sie alle mit Medikamenten zu versorgen, wird zu einer völlig neuen logistischen und wirtschaftlichen Herausforderung, dessen sind sich die Konferenzteilnehmer in Durban bewusst. Deshalb wird es hier auch um andere Ziele gehen: Wie könnte die Entwicklung eines Impfstoffs endlich funktionieren, auf den die Welt schon seit 30 Jahren wartet? Welche Grundlagenforschung muss angeschoben werden, um ein Heilmittel zu finden? "Ich rufe Durban 2016 dazu auf, eine neue Ära zu beginnen. Wir müssen die Lücken bei der Behandlung schließen, Ressourcen, Forschung und Hilfe ausdehnen", forderte UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon zum Auftakt der Konferenz in Durban.

Denn selbst Südafrikas groß angelegte Medikamenten-Kampagne reicht nicht aus, um die Dominanz des Virus zu brechen, wie man an der Umgebung von Durban sieht. Die Region KwaZulu-Natal ist das Epizentrum der HIV-Epidemie in Südafrika, ungefähr jeder dritte Bewohner trägt hier das Virus in sich. Eine hügelige, saftig-grüne Landschaft, die meisten Menschen mit afrikanischen Wurzeln leben in kleinen Dörfern ohne asphaltierte Straßen, manche Wellblechhütten stehen nur wenige Meter neben der Autobahn. Viele Jugendliche im Sizanani-Camp kommen aus solchen Verhältnissen, ihre Lebensgeschichten ähneln sich: Ihre Väter sind häufig arbeitslos oder alkoholabhängig, wenn sie überhaupt noch am Leben sind.

Die Kinder fühlen sich ausgegrenzt und benachteiligt. "Die Menschen, besonders Schwarze, haben sehr viel Angst", sagt Sanele Chonco, ein Jugend-Trainer im Camp und selbst HIV-positiv. "Was ihre Nachbarn denken, was ihre Gemeinde sagt." Viele verheimlichen daher ihren Serostatus, auch gegenüber Sexualpartnern. Das wiederum erhöht das Risiko einer Ansteckung.

"Viele aus meinem Dorf sind seelisch total leer, keiner bringt ihnen bei, wie sie mit der Infektion klar kommen sollen", sagt Chonco. Auch er habe eine riesige Wut auf die Welt und auf sich selbst gehabt, als er die Diagnose bekam. Erst der Austausch mit Gleichaltrigen, mit Vertrauenspersonen habe ihn stark gemacht. Deshalb sollen die Jugendlichen im Sizanani-Camp möglichst offen über ihre Krankheit sprechen, über Probleme in der Schule oder zu Hause - wie man richtig verhütet, wie man es dem Partner sagt. Die Hoffnung der Mediziner ist, dass sich über die Gemeinschaft das Stigma durchbrechen lässt.

Auch Andile hat ihren Freundinnen bislang nichts von ihrer Infektion gesagt, das gebe"zu viel Tratsch in der Schule". Ihren Freund hingegen hat sie informiert. Anfangs habe sie davor Angst gehabt, doch er habe cool reagiert. "Er hat sich gefreut. Er sagte, ich sei die erste Frau, die ihm die Wahrheit über ihr Leben sagt."

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