USA:Gefährliches Tempo bei Medikamententests

Medikamente

Ein neues Gesetz in den USA soll es Pharmakonzernen ermöglichen, Medikamente früher als bisher auf den Markt zu bringen.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

Sind die Lehren aus dem Contergan-Debakel vergessen? In den USA sollen Medikamente künftig schneller auf den Markt kommen - zulasten gründlicher Studien.

Von Kathrin Zinkant

Als Barack Obama in der vergangenen Woche den 21st Century Cures Act unterzeichnete, feierte der scheidende Präsident der Vereinigten Staaten wohl den letzten Triumph seiner Amtszeit. Das Gesetzespaket gilt als visionärer Versuch, die Medizin der Zukunft zu sichern. Viel Geld wird demnach fließen, um das Gehirn zu erforschen, den Missbrauch von Opioiden zu bekämpfen und die Präzisionsmedizin zu beschleunigen. Zum Cures Act gehört zudem der "Moonshot for Cancer", ein neuer, milliardenschwerer Anlauf, Krebs endlich heilen zu können. Lauter gute Absichten also. Dennoch gibt es nicht wenige Gesundheitsexperten in den USA, die dieses scheinbar so großartige Gesetz am liebsten verhindert hätten.

Grund ist ein Begriff, der im Text des Cures Act selbst zwar gar nicht auftaucht. Dafür aber wird er in zahlreichen Abschnitten umschrieben, die sich mit der Zulassung von Medikamenten und Medizinprodukten befassen. Gemeint ist die sogenannte "real world evidence", zu deutsch "Beweislage aus der echten Welt". Sowohl neue Arzneien, als auch medizinische Hilfsmittel wie Implantate sollen demnach nicht mehr zwingend auf Basis gründlicher klinischer Studien bewertet und erst danach zugelassen werden - so, wie es in den USA bislang üblich war. Auf Antrag soll es auch die Möglichkeit schneller, vorzeitiger Zulassungen geben, die später mit den Daten aus der Routinebehandlung von Patienten nachgebessert werden.

Für einige Mediziner bedeutet das nicht weniger als das Ende der medizinischen Sorgfalt. So warnte die Kardiologin Rita Redberg von der University of California in San Francisco bereits im vergangenen Jahr davor, Millionen Amerikaner würden künftig unsicheren, weil ungeprüften Medizinprodukten ausgesetzt. Und der ehemalige Kommissar der US-Arzneimittelbehörde, David Kessler, schrieb in der New York Times, der Cures Act beschere den Patienten mit der "real world evidence" ein "unnötiges Risiko für Schädigungen und Tod" durch unzureichend geprüfte Arzneien. Kessler wurde in den 1990er Jahren selbst dafür bekannt, die Zulassung von neuen Aids-Medikamenten massiv beschleunigt zu haben. Bei der Sicherheit allerdings wollte und will der Kinderarzt keine Abstriche machen. Und mit dem 21st Century Cures Act ist seiner Ansicht nach eine Grenze überschritten.

Seit Contergan gibt es ausführliche klinische Tests - das könnte sich ändern

Es ist eine Grenzüberschreitung, die nicht nur die Amerikaner betreffen wird, denn die USA nehmen seit Jahrzehnten eine Vorbildfunktion in der Arzneimittelzulassung ein. Es waren die Vereinigten Staaten, die 1962 beispielhaft auf den Contergan-Skandal reagierten und klinische Studien für die Zulassung von neuen Arzneimitteln erstmalig zur Pflicht machten - und das, obwohl Contergan in den USA nie auf dem Markt war. Eine Mitarbeiterin der Food and Drug Administration (FDA) hatte die Zulassung verhindert, weil ihr das Mittel unzureichend geprüft erschien. In Deutschland dagegen war Contergan schon 1957 problemlos in den Handel gekommen, neue Medikamente mussten damals lediglich registriert werden. Ein Beleg über Wirkungen und Nebenwirkungen im Menschen war nicht erforderlich. Die Folgen zeigten sich in der "real world": Mehrere Tausend Kinder mit Missbildungen kamen in der Bundesrepublik zur Welt. Ein Gesetz nach dem Vorbild der USA trat in Deutschland erst 1978 in Kraft.

Seither gibt es sehr klare Regeln, um ein neues Medikament auf den Markt zu bringen: Erst wenn es sich im Tierversuch als vielversprechend und sicher erwiesen hat, folgt die klinische Prüfung. Sie beginnt mit der Phase 1, bei der die Arznei einer kleinen Gruppe von meist gesunden Testpersonen verabreicht wird. Vertragen die Probanden das Mittel gut und treten keine schweren Nebenwirkungen auf, dann folgt die Phase 2, bei der erstmals Kranke behandelt werden. Zeichnet sich hier eine Wirksamkeit der Arznei ab, folgt der Goldstandard der Phase 3 - die randomisierte, placebo-kontrollierte Studie, englisch abgekürzt RCT. Dafür wird eine größere Zahl von Patienten durch einen Zufallsmechanismus, die Randomisierung, entweder einer der Behandlungsgruppen zugeordnet. Oder der Placebogruppe, die ein Scheinmedikament erhält. Nur der Vergleich der Ergebnisse aus diesen Gruppen kann den Nutzen und die Nebenwirkungen eines Medikaments für entsprechende Patienten eindeutig belegen und größtmögliche Sicherheit gewährleisten.

Die RCT gilt deshalb nicht ohne Grund als eine Errungenschaft in der Arzneimittelbewertung. Doch ihre Ära könnte mit der "real world evidence" nun enden, auch in Europa. Die entsprechenden Programme der Europäischen Medizinagentur EMA heißen "adaptive pathways" und "priority medicines", in beiden Fällen geht es darum, Medikamente ohne die üblichen Studien auf den Markt bringen zu können, insbesondere ohne die entscheidenden Tests der Phase 3.

Das hätte fraglos einen Vorteil: Innovative Arzneien gegen Krebs und andere schwere oder seltene Erkrankungen würden schneller für all jene Patienten verfügbar, die keine anderen medizinischen Möglichkeiten mehr haben. Experten sprechen von "unmet medical needs", von Versorgungslücken. "Wir sehen bei manchen Immuntherapien in der Krebsmedizin heute schon so früh so große Effekte, mit einer Rückbildung des Tumors bei der Hälfte der Behandelten", sagt Karl Broich, Leiter des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. "Da ist es Patienten nur schwer zu vermitteln, dass sie, anstatt dieses Medikament zu bekommen, erst an einer randomisierten Studie teilnehmen sollen, in der sie womöglich nur das Placebo erhalten".

Broich hält es für sinnvoller, nach den Phasen 1 und 2 zu sehen, welchen Patienten das neue Medikament am besten hilft. Und nur für diese definierte Gruppe von Erkrankten eine Zulassung auszusprechen. "Wir machen damit keine Abstriche von der Sicherheit", sagt Broich. "Diese Art der Zulassung wird außerdem auf Patienten beschränkt bleiben, die sonst sterben oder mit schweren Behinderungen rechnen müssen, weil sie keine therapeutischen Optionen mehr haben". Für Diabetes oder andere gut zu behandelnde Krankheiten werde es dagegen keine angepassten Zulassungen geben.

Der Nutzen neuer Therapien fällt aber oft viel geringer aus, als erhofft

Ob sich die Grenzen auf Dauer so scharf ziehen lassen, bleibt offen. Unterdessen leisten die Verzweifelten der "real world evidence" großen Vorschub: Betroffene und Patientenverbände nutzen Twitter, Facebook oder auch die klassischen Medien, um ihrer Not Ausdruck zu verleihen. Unterstützt werden sie dabei nicht selten von der Pharmaindustrie, die das Interesse an weniger strengen Zulassungen teilt - wenngleich aus anderen Gründen.

Die Hoffnungen der Betroffenen können sie dabei oft gar nicht erfüllen. "In vielen Fällen fällt der Nutzen neuer Therapien weit geringer aus, als sich die Patienten das vorstellen", sagt Stefan Lange vom Kölner Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Lange hält es für grundlegend falsch, die Pfade der klinischen Prüfung zu verlassen. "Es existiert keine Evidenz dafür, dass sich aus Daten der "real world" eine belastbare Evidenz generieren lässt", sagt der Arzt und Epidemiologe. Studien hätten vielmehr gezeigt, dass sich Daten aus Registern und der ärztlichen Routine nicht für Sicherheitsprüfungen eignen.

Entsprechend enttäuscht zeigt sich Lange auch, was den Cures Act der Amerikaner betrifft. "Die FDA war ein Leuchtturm. Heute streitet sie mit der EMA um die Wette, wer am schnellsten Medikamente auf den Markt bringt."

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